Münchner Missbrauchsgutachten schont keinen Würdenträger
Vier Bände mit fast 1.900 Seiten umfasst das Gutachten zum Umgang mit Missbrauchsfällen in der Erzdiözese München und Freising zwischen 1949 und 2019, das Rechtsanwälte am Donnerstag präsentiert haben. Von "Totalversagen" eines Systems und einer "Bilanz des Schreckens" sprachen sie, zumindest bis 2010. Geschont haben sie keinen der aus ihrer Sicht mitverantwortlichen kirchlichen Würdenträger, auch nicht den seit 2008 als Erzbischof von München amtierenden Kardinal Reinhard Marx oder dessen Vorgänger in den Jahren 1977 bis 1982: Joseph Ratzinger, den emeritierten Papst Benedikt XVI.
Dessen Aussagen zu Beteiligung und Mitwisserschaft im Fall des Wiederholungstäters Peter H., der 1980 von Essen nach München kam, um sich dort einer Therapie zu unterziehen, bezeichnete Anwalt Ulrich Wastl als "wenig glaubwürdig". Benedikt XVI. macht in einer schriftlichen Einlassung geltend, er habe als Münchner Erzbischof an der entscheidenden Ordinariatssitzung gar nicht teilgenommen. Wastl las vor den Journalisten aus dem Sitzungsprotokoll vor. Darin wird Ratzinger an mehreren Stellen als Berichterstatter über andere Vorkommnisse genannt.
Ein Fehlverhalten erkennen die Anwälte bei Ratzinger auch noch in drei weiteren Fällen, was dieser aber bestreitet. Dabei geht es um die Versetzung straffällig gewordener Geistlicher, die andernorts weiter Seelsorge betreiben durften. Der emeritierte Papst schrieb dazu, er habe von ihren Taten "keine Kenntnis" gehabt. Er sieht die Versäumnisse bei anderen "Personalverantwortlichen".
Mehrmals gab Anwalt Wastl die dringende Empfehlung ab, die 82 Seiten umfassende Stellungnahme Benedikts selbst zu lesen. Sie ermögliche einen "authentischen Einblick", wie ein Spitzenvertreter der Katholischen Kirche über sexuellen Missbrauch denke.
An einer Stelle griff der Anwalt der Lektüre vor und zitiert Benedikts Stellungnahme: "Pfarrer (Name geschwärzt) ist als Exhibitionist aufgefallen, aber nicht als Missbrauchstäter im eigentlichen Sinn. Die Tathandlungen bestanden jeweils im Entblößen des eigenen Geschlechtsteils vor vorpubertären Mädchen und in der Vornahme von Masturbationsbewegungen (...). In keinem der Fälle kam es zu einer Berührung." Der Täter habe im Übrigen als "anonymer Privatmann" agiert und sei "nicht als Priester erkennbar" gewesen. In der Pfarrseelsorge und als Religionslehrer habe er sich nicht das Mindeste zuschulden kommen lassen.
Wie auch immer Ratzingers Einlassungen zu bewerten sind, fest steht schon jetzt: Seine Rolle im Missbrauchsskandal wird in den kommenden Wochen intensiv diskutiert werden.
Staatsanwaltschaft mit Prüfung befasst
Ob das Gutachten auch strafrechtliche Folgen hat, bleibt abzuwarten. Die Staatsanwaltschaft München I ist jedenfalls schon mit der Prüfung von 42 Fällen befasst, in denen die Anwälte ein Fehlverhalten von Verantwortungsträgern der Erzdiözese München festgestellt haben. Anders als der Gercke-Report für die Erzdiözese Köln kommt die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) zu dem Ergebnis, dass Straftatbestände wie Beihilfe zum Missbrauch im Handeln oder Unterlassen einzelner Münchner Kirchenoberer festgestellt werden können.
Wird es personelle Konsequenzen geben? Die Anwälte halten sich mit Empfehlungen an ihren Auftraggeber zurück. Kardinal Reinhard Marx, dem sie vor allem vorwerfen, dass er den Umgang mit Missbrauchsfällen delegiert habe, statt ihn zur Chefsache zu machen, will sich erst in einer Woche eingehender äußern. Kurzfristig hat er aber ein Statement für Donnerstagnachmittag angekündigt.
Mit seinem Offizial Lorenz Wolf sind die WSW-Gutachter ebenfalls kritisch ins Gericht gegangen. Er hätte in dem berühmten Fall H. wegen Befangenheit gar kein kirchenrechtliches Verfahren führen dürfen, sagen sie. Außerdem bemängeln sie bei ihm eine "distanziert-ablehnende Grundhaltung gegenüber Schilderungen von Betroffenen".
Wie geht es nun weiter? Die Juristen halten weitere Gutachten im Grunde für überflüssig. Zum Systemversagen seien keine neuen Erkenntnisse mehr zu erwarten, sagen die WSW-Anwälte. Stattdessen reden sie den Bischöfen und ihren leitenden Mitarbeitern ins Gewissen. Sie sollten sich fragen, ob es bis 2010 wirklich keine Möglichkeit gegeben habe, innerhalb des Systems zu opponieren.
Wastl sagte, er habe in den drei von seiner Kanzlei untersuchten Diözesen bisher nur einen solchen Menschen angetroffen. Der sei aber schon 1993 verstorben. Auf die Frage einer Journalistin, ob es bei der zweijährigen Untersuchung über den Umgang mit Missbrauchsfällen in der Erzdiözese nicht wenigstens einen solchen "Gerechten" gegeben habe, antwortet Marion Westpfahl knapp: "Ein solcher ist mir nicht in Erinnerung."
Quelle: kathpress