IKG-Wien-Generalsekretär: "Wir brauchen Empathie und Zivilcourage"
Die Sorge um Mitmenschen stelle in der Corona-Pandemie auch für die jüdische Gemeinde Wiens eine große Herausforderung dar. Hinzukomme aber "wie eine Art Brandbeschleuniger" der wachsende Antisemitismus. Das betonte Benjamin Nägele, Generalsekretär der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien, bei einer Veranstaltung zum christlichen "Tag des Judentums" in Linz.
"Antisemitismus betrifft zu allererst, aber niemals alleine Jüdinnen und Juden", sagte Nägele am Dienstagabend an der Katholischen Privat-Universität (KU) Linz. "Wir brauchen Empathie und Zivilcourage in allen Bereichen der Gesellschaft", forderte er bei dem vom christlich-jüdischen Komitee OÖ mitorganisierten Abend zum Thema "Antisemitismus in Verschwörungstheorien, Vorurteilen und aktuellen Erfahrungen". Weiterer Referent der Veranstaltung, die Interessierte via Online-Livestream mitverfolgen konnten, war der Salzburger Kirchenhistoriker Roland Cerny-Werner.
Fast vier Millionen Euro, etwa ein Fünftel des Budgets, investiert die IKG Wien laut Nägele jährlich in den Schutz der Jüdinnen und Juden und ihrer Gebäude. Die jüngste Geiselnahme in einer Synagoge in Texas habe deutlich gemacht, dass jetzt jüdisches Leben sogar in den USA Schutz brauche. Es gehe heute um das Aufstehen und Zeigen von Zivilcourage im eigenen Umfeld, betonte Nägele.
Den von den christlichen Kirchen in Österreich seit dem Jahr 2000 am 17. Jänner als Gedenktag im Kirchenjahr begangenen "Tag des Judentums" hob der IKG-Generalsekretär positiv hervor. Christlich-jüdischer Austausch geschehe mittlerweile "partnerschaftlich, sehr eng und auf Augenhöhe". Zudem leiste er bei der positiven Konnotation jüdischer Geschichte, Gegenwart und Zukunft einen wichtigen Beitrag. Auch das sei keine Selbstverständlichkeit.
Der derzeitige Antisemitismus sei vielschichtig, im Kern bleibe er unverändert, schilderte Nägele weiter: Strafrechtlich relevante Vorfälle seien "nur Spitze des Eisbergs". Trotz hoher Dunkelziffer steige die Anzahl. Die Meldestelle der IKG Wien hat im ersten Halbjahr 2021 mit 562 Vorfällen nur knapp weniger Vorfälle registriert als im gesamten Jahr 2020. Es sei auffällig oft ein Israel-Bezug zu erkennen. Demnächst soll die Auswertung für das zweite Halbjahr folgen. Kriterien zu Antisemitismus gibt die Definition der "International Holocaust Remembrance Alliance" vor.
Stereotype und Anti-Corona-"Querfront"
Nägele - er ist Politikwissenschafter und Absolvent der "Diplomatischen Akademie" - unterschied in seinem Vortrag drei Arten von Antisemitismus. Primärer Antisemitismus seien oft jahrhundertealte antijüdische Stereotypen. Israelbezogener Antisemitismus werde oft als Israel-Kritik verpackt. Häufiger komme Antisemitismus inzwischen auch aus der Mitte der Gesellschaft und sei getrieben durch die Corona-Pandemie, durch Verschwörungsmythen und Schoah-Relativierungen.
Im Judentum sei der Schutz jedes einzelnen Menschen oberstes Gebot. Umso unerträglicher seien Gleichsetzungen der Regierung mit der NS-Herrschaft, mit Diktatur. "Es ist ermüdend und frustrierend und häufig macht es auch wütend", erzählte Nägele: "Hinter dem einen gemeinsamen Feindbild der vermeintlich zionistisch-jüdischen Weltverschwörung verbünden sich Linke und Rechte, Säkulare und Religiöse hinter zu einer vereinten Querfront." Der gemeinsame Nenner sei hierbei die Ablehnung gegenüber Jüdinnen und Juden. Sicherheitswarnungen gebe es mittlerweile jede Woche, etwa im Vorfeld von Anti-Corona-Demos. Ausgehverbote werden derzeit bewusst vermieden.
"Die letzte Eskalationsstufe von Antisemitismus ist immer die Tat. Doch der Träger von Antisemitinnen und Antisemiten sind Wort, Bild und Verschwörungsmythen", betonte der IKG-Generalsekretär. Es sei wichtig, diese auch nicht unbewusst weiterzutragen. Den Begriff der Verschwörungstheorie halte er für problematisch: "Suggeriert er doch einen akademischen Kontext. Denn eine Theorie ist eine wissenschaftlich fundierte und überprüfbare Erklärung." Besser seien Begriffe wie Verschwörungserzählung, Ideologie oder Mythen.
Historische Last des "Gottesmordvorwurfs"
Heute gehe es darum, klarzumachen, "dass Menschen, die sich selbst als Juden und Jüdinnen identifizieren, ganz normal dazu gehören", betonte der an Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Salzburg lehrende Kirchenhistoriker Roland Cerny-Werner. Er sprach von einer "historischen Last": Der auch heute oft geäußerte "Gottesmordvorwurf", die Anschuldigung, Gottes Sohn Jesus ermordet zu haben, sei ein "Kern christlicher Judenfeindschaft". Dieser Irrglaube habe sich seit dem 12. Jahrhundert in der christlich geprägten Gesellschaft verankert. Es sei die "Konstruktion einer untilgbaren Schuld", die sich durch eine gesellschaftspolitische Dynamik gegen "die Juden" richtete. Dabei habe man auf eine Religion zugegriffen, die in ähnlichen Verfolgungssituationen stand. Ein nicht hinterfragter Vorwurf sei zu einer "spätantiken Säule der Identitätsbildung des Christentums" geworden.
Es sei "eine unermessliche Selbsterhöhung" möglich. Die Folge seien etwa die Verbindung von Stereotypen und "realen" Verbrechensvorwürfen sowie "Othering" und Diskriminierung in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und allen Altersstufen. Frühere Antisemiten argumentierten etwa mit Muttersprachen und später mit Nationalitäten gegen "die Juden", was in einem Befreiungskampf und im Holocaust mündete, erklärte Cerny-Werner, der seit mehr als zehn Jahren auch in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen tätig ist.
Jüdisches Leben kennenlernen
In der anschließenden Diskussion betonte Isabella Bruckner, Referentin für Ökumene und Judentum der Diözese Linz, dass Bildung auf zwei Schienen passieren müsse: "Geschichte nicht zu vergessen und gegenwärtiges Judentum kennenzulernen". Beim Projekt Likrat (www.likrat.at) etwa werden jugendliche Jüdinnen und Juden pädagogisch ausgebildet und erzählen in Schulen, an Unis und bei Behörden von ihrem jüdischen Leben.
Unter den Gästen und Gastgebenden des Abends waren etwa der Linzer Bischof Manfred Scheuer, Superintendent Gerold Lehner, Pastoralamtsdirektorin Gabriele Eder-Cakl, KU-Rektor Christoph Niemand und IKG Linz-Präsidentin Charlotte Herman. Veranstaltend waren die KU Linz, das christlich-jüdische Komitee OÖ, das Forum St. Severin, das Bibelwerk Linz, das Evangelische Bildungswerk Oberösterreich und die Private Pädagogische Hochschule der Diözese Linz (PHDL).
Quelle: kathpress