Sozialethiker: Boom an Wertedebatten zeugt von Verunsicherung
Solidarität, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Gleichheit, Freiheit: viel wird in einer Krisenzeit wie der aktuellen über diese Werte debattiert, an sie appelliert - und doch stehe dahinter eher eine Krisenanzeige denn eine starke Gesellschaft. Darin zeigten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer hochkarätigen Podiumsdiskussion am Montagabend in Wien einig. Zur von der Universität Wien online gestreamten Diskussion stand die universitäre "Semesterfrage": "Worauf legen wir noch Wert?" Unter der Leitung von "Standard"-Chefredakteur Martin Kotynek diskutierten der Wiener Sozialethiker Alexander Filipovic, die Rechtsphilosophin Elisabeth Holzleithner sowie Wirtschaftspsychologin Katharina Gangl (Institut für Höhere Studien). Aus München zugeschaltet war der Soziologe Armin Nassehi.
Die aktuelle Häufung von Wertedebatten zeuge vor allem von einer Verunsicherung im Blick auf einen Schwund an Solidarität und davon, "was nicht gut funktioniert in der Gesellschaft, betonte etwa der an der Katholisch-Theologischen Fakultät lehrende Filipovic. Die Pandemie habe den "Anpassungsdruck" erhöht, die eigenen Werte und die gesellschaftlichen Werte - also das Verhältnis etwa von persönlicher Gesundheit zum Gemeinwohl und zu gesellschaftlicher Solidarität - neu zu justieren. Dies überfordere viele Menschen. Filipovic zeigte sich außerdem darin einig mit Nassehi, der in seinem Einleitungsstatement betont hatte, "dass wir über Werte dann sprechen, wenn sich die Werte nicht mehr von selbst verstehen". Werte würden zudem nicht losgelöst von konkreten Situationen und gesellschaftlichen Konstellationen existieren, sondern müssten sich in ihnen zeigen und bewähren.
In dem Kontext empfahl Nassehi, die Werte Kompetenz und Meinungsfreiheit neu in den Blick zu nehmen, da sie nicht nur in der gegenwärtigen Corona-Pandemie angefragt und zur Debatte stünden, sondern auch wichtige Werte seien, die man zur demokratischen Bewältigung künftiger Konflikte und Krisen wie etwa der Klimakrise benötige. So habe die Corona-Politik immer wieder einen Mangel an Kompetenz unter den Entscheidungsträgern sichtbar gemacht; und im Blick auf Verhärtungen in der öffentlichen Debatte zeige sich, dass Meinungsfreiheit nicht notwendig bedeute, dass jede Meinungsäußerung in faktenbasierten Diskursen die gleiche Gültigkeit beanspruchen dürfe.
Zustimmung zu dieser Diagnose kam auch von der Rechtsphilosophin Elisabeth Holzleithner und der Wirtschaftspsychologin Katharina Gangl: Es gebe einen "massiven Vertrauensverlust" in die Politik und in die politischen Eliten. Sie hege jedoch die Hoffnung, so Gangl, dass dies nicht zu einem Rückzug der Bürger aus dem Politischen führe, sondern zu einer Stärkung der Zivilgesellschaft führen werde. Holzleithner wies indes darauf hin, dass Kompetenz zwar ein wünschenswerter Wert gerade auch im Blick auf politisches Handeln sei, dieser aber aufgrund der zahlreichen, miteinander ringenden Kompetenzen - sei es die virologische, die psychologische oder die soziale Expertise - keine zwingende "Handlungsanweisung" darstelle. "Wir müssen uns immer wieder darüber verständigen und darüber streiten, was eigentlich Sache ist", so Holzleithner.
Im Blick auf die Gruppe der Kritiker der staatlichen Corona-Politik und die Impfgegner zeigte sich Filipovic überzeugt, dass diese mit bloßen faktenbasierten Argumenten nicht zu überzeugen oder umzustimmen seien. "Diesen teils extremen Widerstand gegen faktenbasierte Argumentationen kann ich mir nur damit erklären, dass es den Leuten um ihre Identität geht." Es werde durch das staatliche Handeln offenbar etwas berührt, was sich nicht durch bessere Argumente ausräumen oder korrigieren lasse. Diese Gruppe schlichtweg abzuschreiben, sei ein gefährlicher Weg, da sie durch bloße Argumente nicht erreichbar sei und zudem "antidemokratische Tendenzen" zeige, wo sich etwa Überschneidungen mit der Identitären Bewegung zeigen.
Wirtschaftspsychologin Gangl betonte im Blick auf die Corona-Politik, dass gerade beim Thema Impfen viel Vertrauen verspielt worden sei durch eine mangelhafte Kommunikation. Die von politischem Klein-Klein durchzogene Impfdebatte habe die Impfkritiker erst stark werden lassen und dies wiederum erst zur Diskussion über eine Impfpflicht geführt. Dass man nun auf dieses Mittel zurückgreifen müsse, um die Impfquote zu erhöhen, sei kein Erfolg, sondern eher Ausdruck des Vertrauensverlustes der Menschen in die Politik.
Quelle: kathpress