Jäggle: Antisemitische Vorfälle "völlig inakzeptabel"
Mit großer Sorge blickt Prof. Martin Jäggle, Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit, auf die zunehmenden antisemitischen Tendenzen in Österreich und ganz Europa. Der gesamte Komplex von Antisemitismus, Verschwörungstheorien und NS-Verharmlosung bekomme immer mehr Raum in der Gesellschaft, warnte Jäggle im Kathpress-Interview: "Das entsteht nicht zufällig, fällt also nicht vom Himmel, sondern ist das Ziel der maßgeblichen Akteurinnen und Akteuren." Allein schon der Missbrauch von Judensternen sei verstörend, "ja empörend und völlig inakzeptabel".
Jeder wisse, "was Judensterne bedeuten, welche grausamen Erinnerungen damit geweckt und wie hier Ausgrenzung, Entwürdigung, Vertreibung und Ermordung jüdischer Menschen verharmlost werden". Hier würden nicht einfach Gespenster der Vergangenheit wieder belebt, sondern es werde sichtbar, dass die sogenannte "Aufarbeitung" der Geschichte den gesellschaftlichen Grundwasserstrom zu wenig erreicht habe.
Antisemitismus, Verschwörungstheorien und NS-Verharmlosung könnten sich dort ausbreiten, "wo der Schock über die Schoah zu wenig tief sitzt, der Schmerz über die Lücke, die Ermordete und Vertriebene hinterlassen haben, zu gering ist und die Freude über das aufblühende jüdische Leben völlig fehlt".
Die aktuelle Entwicklung mache auf vergangene Defizite aufmerksam und sei kurzfristig nicht zu stoppen, wies Jäggle hin. Es brauche eine gesamtgesellschaftliche Kraftanstrengung, forderte der Präsident des Koordinierungsausschusses. Sonst bleibe etwa auch der Nationale Aktionsplan gegen Antisemitismus bloßes Papier.
Endgültig ohne "Lehre der Verachtung"?
Die Position der Katholischen Kirche in Österreich sei grundsätzlich klar, wie auch die Reaktionen gegenüber einzelnen Priestern, die Verschwörungstheorien verbreiten, zeigten. Und doch brauche es auch eine kirchliche Selbstreflexion über den eigenen Alltag, inwieweit in diesem die Abkehr von der "Lehre der Verachtung" grundlegend und nachhaltig vollzogen sei. So wäre es lohnend, meinte Jäggle, sich mit Judentum als Thema in Liturgie und Verkündigung zu befassen. Aber auch antijüdische Darstellungen in Kirchen und Kirchenpatrone bedürften einer Auseinandersetzung.
Jäggle äußerte sich im Vorfeld des kirchlichen "Tages des Judentums", der an jedem 17. Jänner begangen wird und an dem sich die Kirchen auf ihre jüdischen Wurzeln besinnen. Wie Jäggle betonte, seien die Kirchen um ihrer selbst willen sowie ihrer historischen Verantwortung auf das christlich-jüdische Gespräch verwiesen und angewiesen. Jäggle erinnerte an den Linzer Bischof Manfred Scheuer, der es anlässlich des Tages des Judentums 2021 treffend formuliert habe: "Für Christen ist Jesus ohne sein Judentum nicht zu haben."
Auf eine nicht unerhebliche Ausgangslage habe zudem Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg einmal treffend hingewiesen: "Wenn unter 1.000 Menschen ein Jude ist, sind wir überrepräsentiert." Eine bleibende Folge der Schoah mit der Vertreibung und Vernichtung fast der ganzen jüdischen Bevölkerung Österreichs sei, so Jäggle, die verhältnismäßig kleine, "jedoch sehr beachtliche" jüdische Gemeinschaft in Österreich.
Der "Tag des Judentums" sei 20 Jahre nach seiner Einführung mittlerweile in ganz Österreich angekommen, bilanzierte Jäggle positiv. Die Initiativen in den Landeshauptstädten Eisenstadt, Graz, Innsbruck, Linz, Salzburg, St. Pölten, Wien und weiteren Städten seien "Leuchtturmprojekte", an denen sich zunehmend Pfarrgemeinden in kleineren und größeren Orten orientieren würden. Die Dreiteilung seit 2019 auf einen "Tag des Lernens", einen "Tag des Gedenkens" und einen "Tag des Feierns" habe das Anliegen nochmals auf eine breitere Basis gestellt. Dabei werde auch jüdische Unterstützung vermehrt gesucht und gefunden.
Noch kein "Sonntag des Judentums"
Von mancher Seite wurde in den vergangenen Jahren vorgebracht, dass der Katholischen Kirche ein "Sonntag des Judentums" guttäte. Er sehe in dieser Frage aber derzeit keine Bewegung in diese Richtung, räumte Jäggle ein. Doch auch der "Sonntag der Bibel", der stets auf den "Tag des Judentums" folgt, böte vielfältige Chancen.
Der Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit wurde 1956 von Kardinal Franz König auf Anregung von Prof. Kurt Schubert gegründet. Der Ausschuss trug nach der Schoah wesentlich dazu bei, dass ein neues Verhältnis zwischen Judentum und Christentum in Österreich möglich wurde. Die Arbeitsbereiche sind Dialog, Bildung, öffentliche Kommunikation und Wissenschaft.
Der Vorstand muss laut Statut zu je einem Drittel jüdisch, evangelisch und katholisch besetzt sein. Präsident des Koordinierungsausschusses ist der katholische Theologe Prof. Martin Jäggle. Dechant Ferenc Simone und die Direktorin des Katholischen Bibelwerks, Elisabeth Birnbaum, sind die weiteren katholischen Vertreter im Vorstand. Von jüdischer Seite gehören Vizepräsident Willy Weisz sowie die Historiker Awi Blumenfeld und Mitchel Ash dem Vorstand an. Die evangelischen Vertreter sind Vizepräsidentin Margit Leuthold, Ruth Schelander-Glaser und der evangelische Theologe Stefan Fleischner-Janits. Mit der Aufgabe des Geschäftsführers wurde 2020 der jüdische Religionswissenschaftler Yuval Katz betraut.
(Infos: www.christenundjuden.org)
Quelle: kathpress