Experte: Das Jesus-Bild in der Gegenwartskunst ist eine "heiße Kartoffel"
Ist Jesus Christus ein ins Gewicht fallendes Motiv für zeitgenössische Kunstschaffende? Nein, würde wohl jeder Kunsthistoriker sagen, so die Antwort des Theologen und der Leiters des Grazer Kulturzentrums bei den Minoriten ("Kultum"), Johannes Rauchenberger, im Kathpress-Interview. Und er "würde die Frage umdrehen wollen: Gerade weil das so ist, entstehen derzeit große Christusbilder". Was das Christusbild der Gegenwart seit der Jahrtausendwende vielfach auszeichne, sei das "Gewahrwerden dessen, dass es fehlt", wies er hin.
Rauchenberger nannte als Beispiele den Belgier Ben Willekens und die in Mailand lebende Deutsche Julia Krahn, die in ihren Werken den berühmten Abendmahltisch Leonordo da Vincis zitieren - jedoch leer, ohne Personen. Auch der belgische Künstler Kris Martin zeigt den berühmten Genter Altar Jan van Eycks nur in Umrissen, verstörende und zugleich durchlässige Leere offenbarend.
Rauchenberger, der im laufenden Wintersemester an der Uni Wien ein Seminar zur Frage "Was inspiriert Künstler*innen heute an der Figur Jesu?" hält, sprach pointiert von einer "heißen Kartoffel", die die Fachwelt meide, wenn von Jesus in der Gegenwartskunst die Rede ist. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hätten sich theologisch versierte Experten wie P. Friedhelm Mennekes SJ von der Kunststation Sankt Peter in Köln, Günther Rombold von der Katholischen Privatuniversität Linz oder der evangelische Theologe Horst Schwebel von der Universität Marburg daran abgearbeitet. Heute werde das Thema "mit eher trüben Augen wahrgenommen".
Der "Kultum"-Leiter selbst allerdings hat viele Berührungspunkte, wie er mitteilte: Rauchenberger hält seit 2004 Lehrveranstaltungen dazu, verfasste das Opus Magnum "Gott hat kein Museum" über religiöse Gegenwartskunst, kuratiert regelmäßig Ausstellungen, das "Kultum" verfügt mittlerweile über eine ansehnliche Sammlung an Werken auch mit Jesus Christus als Kristallisationsfigur. "Besonders berührt" hätten ihn die vielen Bilder des im Februar in Graz zu sehenden Guillaume Bruere, vor allem dessen Kreuzigungsbilder: "Am stärksten jenes, auf dem neben den krakelig wirkenden Figuren der Satz "GOTT, WO BIST ICH?" steht."
Zur Osterzeit wird im "Kultum" die "Christus-Uhr" von Manfred Erjautz, die Rauchenberger ebenfalls tief beeindruckt habe, im Rahmen großen Personale zu sehen sein. Es handelt sich um ein historisches Kruzifix, das der Künstler restaurierte und zu einer Uhr umfunktionierte: Körper, Beine und Hände ergeben jeweils Stunden, Minuten und Sekunden an. Für Rauchenberger "ein Bündel an Dekonstruktion und Neukonstruktion von Zeit in Christus zugleich".
Wie wird Rückblick auf heute aussehen?
Kann man vorsichtige Prognosen wagen, wie das Jesusbild in der heutigen Kunst einmal im Rückblick summarisch gedeutet werden wird? Auf diese Frage antwortet der Kunstkenner mit dem Hinweis auf gleich mehrere Eckpunkte: Neben der bereits genannten "Lücke" des fort bzw. verloren gegangenen Christus ortet Rauchenberger eine Wiederkehr der Figuration und der christlichen Ikonografie. Noch in den 1980er-Jahren sei es verpönt gewesen, Christus auch figürlich darzustellen; heute kehre er nicht nur in der Fotografie - mit dem "Leben-Jesu-Zyklus" der französischen Starfotografin Bettina Rheims als "Meilenstein" -, sondern auch in der Malerei zurück.
Dabei gebe es die Tendenz zur Parodie, etwa wenn Siegfried Anzinger "Auferstehung" (2007) so darstellt, dass Jesus auf einem Schwan reitend zum Himmel wegschwebt. Damit verbunden immer noch das Feld der Blasphemie, wenn auch hierzulande deutlich geringer beackert als in Ländern mit noch mächtiger Kirche wie etwa Polen. "Bei uns ist das längst Geschichte", meinte der Kunsthistoriker, ausgenommen die Aufregung um "Der gekreuzigte Frosch" von Martin Kippenberger im katholischen Südtirol Anfang der 2000er-Jahre.
Zu bemerkenswerten Resultaten führt laut Rauchenberger auch die Kollision zwischen der sogenannten westlichen Kunstwelt und Kunstschaffenden aus einem religionsfeindlichen Umfeld. Zu nennen sei hier der aus Albanien stammende und später nach Mailand emigrierte Adrian Paci, der in seiner Auseinandersetzung mit Pier Paolo Pasolini zwei Leben-Jesu-Zyklen schuf - eines davon im Besitz des "Kultum". Paci habe ihm, so Rauchenberger, einmal gesagt, dass für ihn Parodie oder Blasphemie für die Darstellung Jesu völlig ausgeschlossen seien - dazu habe er im totalitären Enver-Hodscha-Regime als Jugendlicher zu viel an Verfolgung erlebt.
Qualität und auch "Gebrauchskitsch"
Im Innsbrucker Dom bei der Ausstellung "Gebt mir Bilder!" zu sehen war ein weiteres von Rauchenberger genanntes Beispiel einer spektakulären Jesus-Darstellung: Der britische Kunststar Mark Wallinger hatte seine "Ecce homo-Figur" zur Millenniumswende auf den leeren Sockel am Trafalgar-Square gesetzt und dazu angemerkt: "Alle reden vom Millennium, aber keiner getraut sich mehr den Grund dafür zu nennen." Seine menschengroße Jesus-Figur, nur mit Lendenschurz bekleidet und mit goldenem Stacheldraht bekrönt, erinnere an die Ausgegrenzten und Verlachten dieser Welt.
Bischof und Kunsthistoriker Hermann Glettler holte Wallinger im Rahmen des Canisius-Jahres in den Innsbrucker Dom. Mit ihm, Gustav Schörghofer in Wien oder früher Bischof Egon Kapellari in Graz gebe es verdienstvolle Brückenbauer zwischen Kunst und Kirche, sagte Rauchenberger. Kirchliche Auftragswerke mit ungewohnten, verblüffenden, ja provozierenden Jesus-Darstellungen kenne er dennoch "leider wenige". Das liege auch daran, dass seit dem II. Vatikanischen Konzil die jeweilige Gemeinde sehr viel mitzureden hat. Als Mitglied der diözesanen Kunstkommission in Graz-Seckau nehme er verstärkt wahr, "dass mehr zunehmend konservativer werdende Pfarrer - ohne Rücksprache mit den vorgesehenen Fachleuten - ihre Lieblingskünstler nehmen und teilweise bedenkliche, ja verheerende Jesusbilder in die Kirche zerren", kritisierte Rauchenberger.
Aber auch in Rom habe der zum vatikanischen "Staatskünstler" aufgestiegene slowenische Jesuit Marko Ivan Rupnik zahlreiche neue Mosaiken in offiziellen Amtsräumen des Vatikans angefertigt, die der Grazer Theologe als "religiösen Gebrauchskitsch" bewertet. Umso bemerkenswerter sei, dass zu Pfingsten 2021 der Leiter des Päpstlichen Kulturrates, Kardinal Gianfranco Ravasi, kirchliche Kunstfachleute aus dem deutschsprachigen Raum und Bischof Glettler im Vatikan zum Gedankenaustausch empfing. Rauchenberger: "Hier scheint sich eine neue Zeit anzubahnen."
Das "Kultum" hält die Tradition der Weihnachtskarte mit entsprechenden Sujets sehr hoch, erzählte dessen Leiter mit Blick auf die kommenden Festtage. Heuer wählte er die Neuinterpretation von Giorgiones "Anbetung der Hirten" durch Guillaume Bruere. Der französische Künstler habe den alten Meister ursprünglich kopieren wollen, weiß Rauchenberger, "aber dann entkam ihm der Pinsel und er übertrug seine skizzenartige Version des Renaissance-Gemäldes ins Heute."
Quelle: kathpress