Lesbos: Franziskus als Lotse gegen den Schiffbruch der Zivilisation
Die türkische Küste liegt zum Greifen nahe. An diesem warmen, klaren Dezembertag sind einzelne Häuser zu erkennen. Das Meer ist ruhig. Von dort scheint Lesbos vielen wie das Tor zum Paradies: Griechenland, EU, Frieden und Sicherheit ... Doch die Insel der Seligen ist Lesbos nicht. Das wissen Orphee und Rosette inzwischen; das Paar hat eine lange, gefährliche Reise aus dem Kongo hinter sich. Viele andere sind gestorben, auch auf der letzten Etappe in der Ägäis.
Seit Monaten steckt das Paar in Mavrovouni fest, dem Aufnahme- und Registrierungslager für Migranten in Lesbos' Hauptstadt Mytilini. Ende September wurde hier ihre Tochter Maria Rolsia geboren. An diesem Sonntag können sie Papst Franziskus aus nächster Nähe zuhören. Er kommt zum zweiten Mal nach 2016 nach Lesbos, um erneut auf die dramatische Lage der Menschen aufmerksam zu machen. Menschen, die um ihr Leben fliehen oder ein besseres suchen.
Vor fünf Jahren begleiteten ihn das Ehrenoberhaupt der orthodoxen Kirche, Patriarch Bartholomaios I., und Athens Erzbischof Hieronymos II. Dieses Mal ist Griechenlands Präsidentin Katerina Sakellaropoulou gekommen. Ihr Land, schwer gebeutelt von der Finanz- und Wirtschaftskrise vor gut zehn Jahren, ist in der EU mit am stärksten mit der Migrationskrise konfrontiert. Sie sieht mit Freude, dass Franziskus hier der Welt sagen wird, wie viel das Land und seine Menschen geleistet haben. Und der Papst fordert erneut andere europäische Staaten auf, Ländern wie Griechenland und Italien mehr Last abzunehmen.
Bei seiner Ankunft lässt Franziskus sich sehr viel Zeit bei seinem Fußweg durchs Lager. An Absperrgittern und Seilen vorbei grüßt er hunderte Menschen. Ein kleiner Junge, den der Papst begrüßt, rennt von einem Block zum nächsten und drängt sich erneut nach vorne. Als Franziskus dort ankommt, lacht er, tätschelt dem Jungen die Wange und meint: "Dich habe ich doch schon einmal begrüßt."
"In die Gesichter der Kinder schauen"
Immer wieder hat Franziskus dazu aufgefordert, den Menschen, die fliehen und ein würdiges Leben suchen, ins Gesicht zu blicken. Heute sind es die Gesichter dieser Kinder und ihrer Eltern, deren Bilder Franziskus von Lesbos aus in die Welt senden will. "Wenn wir neu anfangen wollen, sollten wir vor allem in die Gesichter der Kinder schauen", sagt er in seiner Rede.
In einer leidenschaftlichen wie auch differenzierten Ansprache erinnert der Papst daran, dass "in der heutigen Welt bruchstückhafte Lösungen unzureichend sind". Während Corona-Impfungen auf Weltebene vorangebracht würden und sich im Kampf gegen Klimaveränderungen etwas zu bewegen scheine, "sieht alles im Bereich der Migrationen nach einem schrecklichen Stillstand aus".
Die ständige Abwälzung von Verantwortung müsse aufhören, und die Migrationsfrage nicht immer an andere delegiert werden, kritisiert der Papst. Das Mittelmeer sei "zu einem kalten Friedhof ohne Grabsteine" geworden. "Lasst uns diesen Schiffbruch der Zivilisation stoppen!", sagt er bitter.
Gleichzeitig signalisiert Franziskus Verständnis für Ängste und Sorgen der Menschen in Europa. Lösen ließen sich die Probleme aber nicht durch stärkere Zäune oder Stacheldraht. "Das geschieht vielmehr durch eine Bündelung der Kräfte, um sich der Anderen anzunehmen" - je nach gegebenen Möglichkeiten und unter Wahrung des Rechts, mahnt er.
Lob an die örtliche Bevölkerung
Ausführlich dankt er "den zahlreichen Freiwilligen und allen, die auf jeder Ebene - institutionell, sozial, karitativ" - sich unter großen Mühen "der Menschen und der Migrationsfrage angenommen haben". Das Lob an die örtliche Bevölkerung ist bitter nötig, wird aber nicht reichen, wenn andere europäische Länder nicht ihre Einstellung und Verhalten ändern.
Die ständige Überforderung in den Dörfern rund um die Aufnahmelager sind Nährboden, nicht nur für bloßen Populismus. "Close Moria, smash Fascism", ist in großen Buchstaben auf ein Betonsilo am Eingang von Mytilini gesprüht. Der Aufruf galt dem im Sommer 2020 abgebrannten Aufnahmelager Moria im Südosten von Lesbos. In dem für 2.800 Personen konzipierten Lager lebten zeitweilig 20.000 Menschen; es war Europas größtes Flüchtlingslager, galt als gescheiterter Ansatz der Migrationspolitik. Das neue Camp, ausgelegt für 8.000 Menschen, ist pandemiebedingt mit rund 2.300 Personen belegt.
Als der Papst weg ist, Polizei und Security die Absperrgitter forträumen und der Medientross Kameras, Mikros und Laptops einpackt, holen Kinder Fahrräder heraus. Sie bolzen über die Geröllwege. Wann sie dies in einer besseren Umgebung tun können, hängt auch von den Menschen und Regierungen in Europa ab.
Dass Präsidentin Sakellaropoulou am Nachmittag in Athen an der katholischen Messe mit dem Papst teilnimmt, zeigt ihre Anerkennung für den Besuch des katholischen Kirchenoberhaupts in dem traditionell orthodoxen Land. Angesichts so vieler Herausforderungen hat nicht nur ihre Regierung wenig Interesse an den weiterhin gepflegten konfessionellen Animositäten.
Auszüge der Ansprache des Papstes im Flüchtlingslager auf Lespos |
(...) Schwestern und Brüder, ich bin wieder hierhergekommen, um euch zu treffen. Ich bin hier, um euch zu sagen, dass ich euch nahe bin. Ich bin hier, um eure Gesichter zu sehen und euch in die Augen zu schauen. (...) Der Ökumenische Patriarch und liebe Bruder Bartholomaios sagte vor fünf Jahren auf dieser Insel etwas, das mich sehr beeindruckte: "Wer Angst vor euch hat, hat euch nicht in die Augen geschaut. Wer Angst vor euch hat, hat eure Gesichter nicht gesehen." (...) Ja, es ist ein Weltproblem, eine humanitäre Krise, die alle angeht. Die Pandemie hat uns auf globaler Ebene getroffen; (...) in der heutigen Welt sind bruchstückhafte Lösungen unzureichend. Während jedoch die Impfungen, wenn auch mühevoll, auf Weltebene vorangebracht werden und sich im Kampf gegen Klimaveränderungen, wenn auch mit vielen Verzögerungen und Unsicherheiten, etwas zu bewegen scheint, sieht alles im Bereich der Migrationen nach einem schrecklichen Stillstand aus. Dabei stehen doch Menschen und Menschenleben auf dem Spiel! (...) Die Geschichte lehrt, dass Abkapselungen und Nationalismen katastrophale Folgen haben. (...) Ich wiederhole: Die Geschichte lehrt uns das, aber wir haben es noch nicht gelernt. Man darf der Wirklichkeit nicht den Rücken kehren, die ständige Abwälzung von Verantwortung muss aufhören, und die Migrationsfrage darf nicht immer an andere delegiert werden, so als beträfe es niemanden und als sei sie nur eine nutzlose Last, die jemand zu übernehmen gezwungen ist! (...) An diesem Sonntag bitte ich Gott, uns aus unserer Vergesslichkeit gegenüber den Leidenden zu erwecken; uns aufzurütteln aus dem Individualismus, der ausgrenzt; (...) Und ich bitte auch (...) jeden Menschen: Lasst uns die lähmende Angst überwinden, die todbringende Gleichgültigkeit, das zynische Desinteresse, das in Samthandschuhen die am Rand Stehenden zum Tode verurteilt!(...) Fünf Jahre sind seit meinem Besuch hier mit meinen lieben Brüdern Bartholomaios und Hieronymos vergangen. Nach dieser langen Zeit stellen wir fest, dass sich in der Migrationsfrage wenig verändert hat. Sicherlich haben sich viele in der Aufnahme und Integration engagiert, und so möchte ich den zahlreichen Freiwilligen danken und allen, die auf jeder Ebene - institutionell, sozial, karitativ - große Mühen auf sich genommen und sich der Menschen und der Migrationsfrage angenommen haben. Ich würdige den Einsatz in der Finanzierung und im Aufbau angemessener Aufnahmestätten, und von Herzen danke ich der Bevölkerung vor Ort für das viele Gute, das sie getan hat, und die vielen bisher gebrachten Opfer. Wir müssen aber mit Bitternis zugeben, dass dieses Land wie andere noch unter Druck steht und dass es in Europa immer noch Leute gibt, die so tun, als ginge sie dieses Problem nichts an. Das ist tragisch. Und wie viele menschenunwürdige Situationen bestehen noch immer! Wie viele Hotspots, wo Migranten und Flüchtlinge unter grenzwertigen Umständen leben, ohne dass sich am Horizont eine Lösung abzeichnet! Dabei sollte die Achtung des Menschen und der Menschenrechte immer gewahrt werden, vor allem auf dem Kontinent, der sie weltweit propagiert, und die Würde jedes Menschen sollte allem anderen vorangestellt werden! Es ist traurig, wenn als Lösung vorgeschlagen wird, mit gemeinsamen Ressourcen Mauern zu bauen, Stacheldrahtzäune zu bauen. Wir leben in der Epoche des Stacheldrahts. Ängste und Unsicherheiten, Schwierigkeiten und Gefahren sind natürlich verständlich. Man bemerkt auch Müdigkeit und Frustration, die von der Wirtschaftskrise und der Pandemie verschärft werden. Aber es ist nicht durch eine Verstärkung der Zäune, dass sich die Probleme lösen lassen und sich das Zusammenleben verbessern lässt. Das geschieht vielmehr durch eine Bündelung der Kräfte, um sich der Anderen anzunehmen je nach den tatsächlichen Möglichkeiten eines jeden und unter Wahrung des Rechts; dabei muss der unabdingbare Wert des Lebens jedes Menschen stets an erster Stelle stehen.(...) In verschiedenen Gesellschaften besteht gegenwärtig ein ideologischer Gegensatz zwischen Sicherheit und lokaler wie universaler Solidarität, zwischen Tradition und Offenheit. Anstatt für diese oder jene Idee einzutreten, kann es hilfreich sein, von der Wirklichkeit auszugehen: (...) Viele Bevölkerungsgruppen sind Opfer humanitärer Notlagen, die sie nicht verursacht, sondern nur erlitten haben, und dies oftmals nach langer und noch andauernder Ausbeutung. Es ist leicht, die öffentliche Meinung mitzureißen, indem man ihr Angst vor den Anderen einflößt; warum spricht man nicht in demselben Ton von der Ausbeutung der Armen, von den vergessenen und oft großzügig finanzierten Kriegen, von den auf dem Rücken anderer Menschen abgeschlossenen wirtschaftlichen Pakte, von den heimlichen Manövern des Waffenhandels und der Proliferation von Waffen? Warum spricht man nicht davon? Die zugrundeliegenden Ursachen müssen angegangen werden, nicht die armen Menschen, die die Folgen zu tragen haben und sogar für politische Propaganda missbraucht werden! (...) Das Mittelmeer hat Jahrtausende lang unterschiedliche Völker und weit voneinander entfernte Länder miteinander verbunden; jetzt wird es gerade zu einem kalten Friedhof ohne Grabsteine. Dieses große Wasserbecken, diese Wiege zahlreicher Zivilisationen erscheint nun als Spiegel des Todes. Lassen wir nicht zu, dass dieses "Meer der Erinnerungen" zu einem "Meer des Vergessens" mutiert! Ich bitte euch, lasst uns diesen Schiffbruch der Zivilisation stoppen! (...) (Man) beleidigt Gott, wenn man den nach seinem Abbild geschaffenen Menschen verachtet, ihn den Wellen und dem Schwappen der Gleichgültigkeit überlässt, was dazu noch manchmal mit vorgeblichen christlichen Werten gerechtfertigt wird. (...) Jesus erklärt feierlich, genau dort zu sein, im Fremden, im Flüchtling, im Nackten und Hungrigen. Und das christliche Programm besteht darin, dort zu sein, wo Jesus ist. Ja, denn das Programm des Christen - wie Papst Benedikt XVI. schrieb - ist ein "sehendes Herz". Und ich möchte diese Botschaft nicht beenden, ohne dem griechischen Volk für die Aufnahme zu danken. Oft stellt diese Aufnahme ein Problem dar (...) - danke, liebe Brüder und Schwestern in Griechenland, für diese Großzügigkeit! Nun beten wir zu Maria, auf dass sie unsere Augen für die Not unserer Geschwister öffne. Sie machte sich eilig auf den Weg zu ihrer Cousine Elisabet, die schwanger war. Wie viele schwangere Mütter haben in Eile und auf Reisen den Tod gefunden, während sie das Leben in sich trugen! Die Mutter Gottes helfe uns, einen mütterlichen Blick zu haben, der in den Menschen Kinder Gottes und Geschwister erkennt. Sie gilt es anzunehmen, zu schützen, zu fördern, zu integrieren. Und zärtlich zu lieben. Die Allselige Jungfrau Maria lehre uns, allen Ideen und Ideologien die Wirklichkeit des Menschen voranzustellen - die Wirklichkeit vor allen Ideen und Ideologien - und mit raschen Schritten auf die Leidenden zuzugehen. |
Quelle: Kathpress