Polak: Gedenken an Novemberpogrome von erschreckender Aktualität
Die Verbrechen der Schoah sind keine rein vergangenen "monströsen Verirrungen", sondern zeigten laut der Wiener Theologin Regina Polak eine mögliche Seite moderner Zivilisationen auf. Insofern sei die Schoah auch von einer "erschreckenden Aktualität": Das hat die Expertin am Dienstagabend beim ökumenischen Gottesdienst zum Gedenken an die Opfer der Novemberpogrome von 1938 in der Wiener Ruprechtskirche betont.
Bis heute würden die mörderischen Ereignisse jener Zeit in der Erinnerungskultur, in öffentlichen Ansprachen und Reden regelmäßig als "monströse Verirrungen" oder "Zivilisationsbruch" betrachtet. Man spreche vom "Unvorstellbaren", vom "Unbegreiflichen", vom "Abgrund des Bösen". Doch indem man Täter und Taten solcherart dämonisiert, aus dem Bereich des eigenen Lebens externalisiert und nicht konkret benennt, versuche man den Ereignissen dieser Zeit die Sprengkraft des Schreckens zu nehmen, warnte Polak.
Diese emotionale und sprachliche Abwehr sei zunächst eine verständliche Reaktion, doch es gelte, "diese Ereignisse so gut es möglich ist, mit klarer und nüchterner Vernunft zu rekonstruieren und zu verstehen". Denn für die Opfer dieser Verbrechen seien Gewalt, Totschlag und Mord nicht unvorstellbar, sondern mörderische Realität gewesen, so die Theologin: "Aufgrund der Verantwortung den Opfern gegenüber gilt es, die Ereignisse und Taten, die verantwortlichen Täter konkret zu benennen." Aber auch um der Gefahr der Wiederholung, die niemals ausgeschlossen werden kann, zu widerstehen, dürfe man nicht ausweichen.
Prof. Polak verwies auf den jüdisch-polnischen Soziologen Zygmunt Bauman. Dieser habe einen solchen Versuch unternommen, die Schoah rational zu verstehen. Für Baumann seien die Schoah und die Prozesse, die zu ihr geführt haben, weder ein dämonischer noch zivilisatorischer Rückschritt in die Barbarei, sondern eine mögliche Konsequenz, die der modernen Zivilisation innewohnt. Das hieße, so Polak, "dass auch unsere moderne Gesellschaft und Welt nach wie vor in Gefahr ist, Menschen zu vernichten, vielleicht sogar sich selbst zu vernichten".
Moderne Zivilisation bedeute freilich auch Fortschritt lebensrettender Medizin, Mehrung des Wohlstands für viele, Kampf gegen die Armut oder Entstehung der Menschenrechte. Aber dieselbe Moderne habe laut Polak eine zweite Seite: Sie bedeute auch Ausbeutung, Todeslager, Krieg und vor allem Grausamkeit. Diese Kehrseite der modernen Zivilisation werde nicht nur gerne ausgeblendet, sie werde in den entrechteten, vor Krieg, Armut und Klimakatastrophen Flüchtenden buchstäblich und erneut für alle öffentlich sichtbar ausgesperrt.
"Möglichkeit mörderischer Katastrophen"
In einer Zeit multipler globaler Krisen bekommt laut Polak eine solche Sicht auf die Schoah eine erschreckende Aktualität. Betrachte man sie nicht als monströse Verirrung einer an sich heilen Zivilisation, sondern erkenne man an, dass sie die "Signatur des zivilisatorischen Fortschritts" trägt, würden viele der zeitgenössischen Krisenphänomene in einem anderen Licht erscheinen. "Denn dann besteht die ernst zu nehmende Möglichkeit mörderischer Katastrophen", warnte Polak.
Die bürokratische Politik mit geflüchteten Menschen, die diese primär als numerisches Managementproblem betrachtet, wäre dann ebenso ein Alarmsignal wie die Deponierung von Millionen Flüchtlingen an den Grenzen Europas oder in den Lagern dieser Welt. Die Produktion von wirtschaftlich "überflüssigen" Menschen durch eine von multinationalen Konzernen beherrschte Wirtschaft müsste ebenso erschrecken wie die transhumanistischen Visionen eines digitalisierten Menschen oder die Fortsetzung einer Politik, die im globalen Konkurrenzkampf um Macht die Ressourcen des Planeten zerstört.
Schließlich müsse auch der global ansteigende Antisemitismus Angst machen und alarmieren - allem voran Jüdinnen und Juden, die auch in Europa wieder auf gepackten Koffern sitzen. Antisemitismus sei ein "Indikator einer Moderne, die aus den Fugen geraten ist".
Polaks Fazit: "So gesehen können wir es uns nicht leisten, der Novemberprogrome im Modus monströser Verirrungen zu gedenken: um der Jüdinnen und Juden willen, die heute wieder bedroht sind; um der Menschen willen, deren Leben durch die Gewalt der modernen Zivilisation beschädigt und zerstört wird; um unseres bedrohten Globus willen."
Solange man in Europa in einer Vorstellung von immerwährendem Frieden und wachsendem Wohlstand gelebt habe, "konnten wir die Frage nach den Zusammenhängen der Schoah mit unserer Zivilisation gleichsam unter Quarantäne halten". Aber Antisemitismus, Klimakatastrophen, soziale und politische Verwerfungen der Gegenwart "holen die Schattenseiten der Moderne heute ins grelle Licht und erlauben dies nicht mehr". Die Erinnerung an die Novemberpogrome sei demnach von höchster Aktualität, so Polak: "Sie erinnert uns an die Verantwortung, nicht aufzuhören, um das Verständnis der Ursachen der Schoah zu ringen und zugleich die Zeichen der Zeit zu erkennen."
Schweigemarsch zum Judenplatz
Im Anschluss an den Gedenkgottesdienst in der Wiener Ruprechtskirche zogen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Rahmen eines Schweigemarsches zum Mahnmal auf dem Judenplatz. Veranstalter des ökumenischen Gedenkens waren die Gemeinde der Ruprechtskirche gemeinsam mit einer Reihe von christlichen und jüdischen Organisationen. Von kirchlicher Seite nahmen unter anderem Prof. Martin Jäggle, Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit, der evangelische Altsuperintendent Hansjörg Lein, der Rektor der Ruprechtskirche P. Alois Riedlsperger und die evangelische Hochschulseelsorgerin Katharina Payk an dem Gedenken teil.
In der Nacht vom 9. auf 10. November 1938 wurden im gesamten deutschen Machtbereich Synagogen in Brand gesteckt, jüdische Geschäfte sowie Wohnungen zerstört und verwüstet. Zahlreiche Juden wurden bei den Pogromen getötet oder verletzt. Allein in Wien wurden im Zuge des Furors insgesamt 42 Synagogen und Bethäuser zerstört. 6.547 Wiener Juden kamen in Haft, knapp 4.000 davon wurden in das Konzentrationslager Dachau verschleppt. Die Nationalsozialisten gaben diesem Tag den euphemistischen Ausdruck "Reichskristallnacht". Mit dem Novemberpogrom radikalisierten sie die Vertreibung und Enteignung der jüdischen Bevölkerung.
Gedenken in Simmering und Döbling
In Wien-Simmering fand am Dienstagnachmittag am Ort der ehemaligen jüdischen Synagoge ein Gedenken für die Opfer der Novemberpogrome bzw. der Schoah statt. An der Veranstaltung nahmen neben Bezirksvorsteher Thomas Steinhart und Vertretern der israelitischen Kultusgemeinde u. a. die evangelische Pfarrerin Anna Kampl, der orthodoxe Bischofsvikar Nicolae Dura, der katholische Pfarrer Pavel Povaza, der altkatholische emeritierte Bischof Bernhard Heitz sowie Vertreterinnen und Vertreter der Islamischen und Alevitischen Glaubensgemeinschaft teil.
Die Vertreter der Religionen riefen einhellig zum Einsatz gegen den Antisemitismus auf. Zum Abschluss der Gedenkveranstaltung legte jeder eine weiße Rose bzw. einen Stein beim Mahnmal an der Ecke Braunhubergasse-Hugogasse nieder.
Auch im Westen Wiens wurde der Opfer der Pogrome gedacht. Die Vernetzte Ökumene Wien, die katholische Pfarre Franz von Sales und die evangelische Pfarrgemeinde Döbling luden am Dienstagabend zu einem ökumenischen Gedenken in die Glanzinger Kirche, das unter dem Motto "Christlich-jüdische Erinnerungen zwischen Kaasgraben & Krottenbach" stand.
Quelle: kathpress