Scheuer betont Grenzen der Selbstbestimmung in der Impffrage
Wer in der Frage der Coronaimpfung immer mit Freiheit und Selbstbestimmung argumentiert, muss bedenken, "was ich für mich selber bestimme, hat aber Auswirkungen auf andere. Ich kann mit meiner Form der Selbstbestimmung anderen schaden": Das betonte der Linzer Diözesanbischof Manfred Scheuer in einem Interview für die "Oberösterreichischen Nachrichten" (OÖN; Samstagausgabe): "Wir merken gerade in der Pandemie, dass wir miteinander verwoben sind, ob wir das wollen oder nicht. Keiner ist eine Insel für sich. Wie ich lebe, hat Auswirkungen auf andere. Ich hoffe, diese Einsicht wird stärker", so Scheuer.
Die Wissenschaftsskepsis in der Bevölkerung sei ein Auftrag an die Politik, meinte er. Im Zusammenhang mit der Pandemie sei klar geworden, was Wissenschaft könne und wo ihre Grenzen liegen. "Wissenschafter können beraten, aber entscheiden müssen die Politiker, das nimmt ihnen keiner ab. Die Eindeutigkeit, die in der Wissenschaft gilt, gibt es im praktischen Leben meist nicht. Politik muss Kompromisse schließen. Die Pandemie werden wir nur mit und durch die Wissenschaft überwinden können, aber auch nicht ausschließlich durch sie. Über die Spannungen in der Gesellschaft werden wir nicht durch die Wissenschaft hinwegkommen", gab der Bischof zu bedenken.
Seine Erfahrungen über die letzten eineinhalb Jahre seien sehr widersprüchlich. Einerseits habe es heuer einen Sommer gegeben, "wo man den Eindruck gehabt hat, dass die Freude der Menschen groß war, wieder miteinander feiern zu können. Wir hatten Glockenweihen, aus denen Volksfeste wurden." Aber es habe in der ersten Phase der Pandemie auch "Erfahrungen der Vereinsamung, des Abgeschnitten-Seins" gegeben, sagte Scheuer: "Wir haben erkannt, welche Möglichkeiten die Digitalisierung eröffnet, aber auch, was fehlt: Eine tiefe Freundschaft lässt sich nicht über das Internet schließen. Wir erkennen wieder, wie wichtig die sinnliche Kommunikation ist. Was den Glauben betrifft: Dass ein stärkeres Vertrauen in Gott da wäre, würde ich noch nicht unmittelbar wahrnehmen."
Zum Corona-Management der oberösterreichischen Landesregierung, wo es eine Zusammenarbeit von ÖVP und impfkritischer FPÖ gebe, sagte der Bischof, er wolle "keine Zeugnisse für die Parteien verteilen". Wichtig sei, dass es zu einer Verständigung komme, und wichtig sei weiters, dass die Linie der Bundesregierung unterstützt werde. Davon gehe er auch beim Koalitionspartner aus.
Chats: "Gab schon bessere Zeiten für Dispute"
Die Aufregung um die Chatprotokolle muss Scheuer zufolge vor dem Hintergrund einer Unübersichtlichkeit im Verhältnis zwischen Parteien und Kirche gesehen werden. Diese sei allerdings nicht neu. Einerseits gebe es Parteien "mit einer gewissen Offenheit für unsere Anliegen", andererseits gebe es auch massive andere Interessen. "Generell halte ich es mit Papst Franziskus, der gesagt hat: Ich möchte eher versuchen, die Meinung eines Menschen zu retten, als sie zu verurteilen. Aber ich weiß natürlich, dass das zurzeit manchmal naiv ist", zeigte sich Scheuer versöhnlich.
Dabei hob er hervor, dass es in der Geschichte schon diskursfreundlichere Zeiten gegeben habe: "In der mittelalterlichen Tradition war man viel disputfreudiger, obwohl heute die Meinung vorherrscht, das Mittelalter sei finster gewesen. In den Diskussionen damals gehörte es dazu, Gegenargumente zu einer These einzuholen und zu versuchen, sie zu verstehen. Das ist eine andere Herangehensweise als 'name and shame'."
Die Kultur der öffentlichen Auseinandersetzung habe demgegenüber heute oft ein plakatives Niveau erreicht, das niemanden guttue. Fundamentalistische Eindeutigkeit bringe einerseits nicht weiter, weil sie nur zu weiteren Verhärtungen führe. Andererseits werde auch eine totale liberale Gleichgültigkeit den Problemen des Lebens nicht gerecht, resümierte der Linzer Diözesanbischof.
Quelle: kathpress