Nahost: Christen und andere Minderheiten sitzen im gleichen Boot
Die Situation der Christen im Orient ist nicht von jener anderer Minderheiten zu trennen. Eine Zukunft kann es daher nur für alle vulnerablen Gruppen gemeinsam in einer Stärkung der Pluralität vor Ort geben. Das war eine wesentliche Erkenntnis der Jahrestagung der Initiative Christlicher Orient (ICO) in Salzburg, die am Dienstag zu Ende gegangen ist. Die ehemalige Kriegsberichterstatterin und nunmehrige Psychotherapeutin Petra Ramsauer und der Politologe und Kulturanthropologe Thomas Schmidinger skizzierten dabei zum Abschluss der Tagung die Lage in Syrien und im Irak.
Wie Ramsauer sagte, könne man in der Zeit nach dem IS im Irak nicht mehr von Christenverfolgung sprechen, die verblieben Christen und auch andere Minderheiten wie die Jesiden würden aber im täglichen Leben erfahren, dass ihnen immer mehr die Existenzgrundlage entzogen wird. Seit 2003 habe die Zahl der Christen im Irak um 75 Prozent abgenommen, schätzte Ramsauer. Sie sprach von noch rund 125.000 verbliebenen Christen im Land.
Die Verfolgung durch die Terrormiliz IS hätten die Christen nicht nur als unmittelbare Lebensbedrohung erlebt, sondern auch als totale Zerstörung der eigenen Identität. Dermaßen traumatisiert hätten dann viele ihr Glück im Westen gesucht. Das werde vor allem von kirchlichen Vertretern nicht gerne gesehen, die einen Irak ohne Christen fürchten. Ein Priester habe ihr gesagt: "Was der IS nicht schaffte, erledigte dann Europa durch das Angebot der Aufnahme von Christen." Damit es für die Verbliebenen eine Zukunft gibt, brauche es dringend mehr Unterstützung des Westens, so Ramsauer.
Die Nahost-Expertin erinnerte daran, dass die Christen im Orient traditionell in den Bereichen Bildung und Gesundheit Bedeutung für die Gesellschaft hätten. Wenn man vom Westen her etwa christliche Bildungseinrichtungen vor Ort stärkt, die ja zu einem Gutteil von Muslimen besucht werden, unterstütze man damit auch die Rolle und Präsenz der christlichen Minderheit.
Die mittelfristigen Zukunftsaussichten seien aber im Irak wenig rosig, räumte Ramsauer ein. Es herrsche unter vielen Irakern die Angst, dass sich die US-Truppen aus dem Land zurückziehen und es zu einer ähnlichen Entwicklung wie in Afghanistan kommen könnte. Der IS sei zwar geschwächt, aber nicht besiegt, dazu würden schiitische Milizen immer stärker.
Im Blick auf den Irak, Syrien aber auch den Libanon meinte Ramsauer, dass diese Staaten in der derzeitigen politischen Form gescheitert seien. Es brauche neue Konzepte, die mehr Regionalismus und Pluralität zulassen. Das würde der Heterogenität der Region mit so vielen verschiedenen Ethnien, Sprachen und Religionen bzw. Konfessionen besser Rechnung tragen.
Schwierige Lage in Syrien
Der Politologe und Kulturanthropologe Thomas Schmidinger skizzierte die Lage der Christen in Syrien. Von einer generellen Christenverfolgung könne man nicht sprechen, man müsse von Region zu Region differenzieren. Im Regierungsgebiet und im von den Kurden gehalten Norden und Osten des Landes gebe es definitiv keine Christenverfolgung. Die Angst der Christen vor den Jihadisten sei aber berechtigterweise sehr groß.
Im Blick auf jene Gebiete, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden, meinte Schmidinger, dass es für Christen keine Alternative zur Regierung gebe, wobei vor allem die Kirchenhierarchien sehr regimetreu seien. In den vor allem von Kurden verwalteten Gebieten in Nord- und Ostsyrien gibt es sogar eigene christliche politische Parteien, Militär- und Polizeieinheiten.
Anders sieht die Sache in jenen im Norden gelegenen Gebieten aus, die von der Türkei und pro türkischen jihadistischen Milizen gehalten werden. Hier gebe es starke Diskriminierung und enormen Druck auf die Christen, freilich auch auf andere Minderheiten wie Jesiden, teils auch Schiiten oder Drusen. Das führte und führt zu Flucht und Abwanderung.
Noch schlimmer als den alteingesessenen Christen gehe es in diesen Gebieten den Konvertiten, so Schmidinger. Fast alle seien geflohen, nur einige wenige geblieben, die täglich um ihr Leben bangen würden. In einem von pro-türkischen Milizen in der Region Afrin veröffentlichten Video in Richtung der Konvertiten heißt es wörtlich: "Bei Allah, wenn ihr bereut und zu Allah zurückkehrt, dann wisst, dass ihr unsere Brüder seid. Aber wenn ihr euch weigert, dann sehen wir, dass eure Köpfe reif sind und dass es Zeit für uns ist, sie zu ernten."
Kopfsteuer oder Flucht
Am schlimmsten sei die Situation für die Christen und andere Minderheiten schließlich in der allein von Jihadisten gehaltenen Region Idlib, wo so gut wie alle Christen geflohen sind. Wer blieb, muss Kopfsteuer zahlen. Vielfach wurde das Eigentum der Christen beschlagnahmt. Laut türkischen Medien gibt es in Idlib keine aktiven christlichen Gemeinden mehr. In drei christlichen Dörfern der Region sollen aber laut Schmidinger noch einige wenige christliche Familien ausharren, die von zwei Franziskanermönchen betreut werden.
Krieg und das Fehlen eines Rechtsstaates sei für alle ohnmächtigen kleinen Gruppen ein noch größeres Problem als für große Gruppen. Letztere könnten sich teils selbst schützen, kleine nicht, so das Fazit des Politologen. Durch Auswanderung würden die kleinen Gruppen dann nochmals kleiner. Schmidinger sprach vom Dilemma zwischen persönlicher Freiheit und dem berechtigtem Wunsch nach einem besseren Leben auf der einen Seite und der verständlichen Kritik jener, die zurückbleiben. Das seien in der Regel die schlechter Ausgebildeten und Armen. Das mache die Verbliebenen nochmals vulnerabler.
Mehr Engagement Österreich notwendig
Einig waren sich Schmidinger und Ramsauer, dass sich Österreich im Nahen Osten stärker engagieren müsste. Einerseits als neutraler politischer Vermittler zwischen den Konfliktparteien, andererseits aber auch in konkreter Hilfe. Schmidinger: "Warum ist es nicht möglich, dass Österreich einige Jesidinnen aus dem Irak aufnimmt. Das sind vom IS geschändete Freuen, die von allen gemieden werden, nach wie vor in Flüchtlingslagern leben und vor Ort absolut keine Zukunft haben."
Ramsauer wies darauf hin, dass Hilfe vor Ort nach Möglichkeit nicht konfessionell priorisiert werden sollte. Das würde die Spannungen zwischen den Religionsgruppen und Ethnien nur noch verstärken.
"Brücke der Solidarität"
"Die christlichen Gemeinden im Orient sind auf unsere Solidarität angewiesen", so ICO-OBmann Slawomir Dadas in seinen Ausführungen. Er wies zugleich aber darauf hin, dass die Projektpartner der ICO vor Ort zwar durchwegs christliche Einrichtungen bzw. Kirchen seien, die konkrete Hilfe dann zu einem Gutteil auch Muslimen und Angehörigen anderer Religionen zugutekommt. Die ICO verstehe sich als Brücke der Solidarität zwischen dem Westen und dem Orient.
Die "Initiative Christlicher Orient" (ICO) konnte 2020 mit rund 1,13 Mio. Euro einen neuen Spendenrekord verzeichnen. Damit war es möglich, 70 Hilfsprojekte im Nahen Osten zu finanzieren. Insgesamt wurden 22 Hilfsprojekte im Libanon, 21 in Syrien und 18 im Irak umgesetzt. Die restlichen Projekte verteilen sich auf Jordanien, Palästina, Armenien und die Südosttürkei (Tur Abdin). (Infos: www.christlicher-orient.at)
Quelle: kathpress