Experte: Rückhalt der Taliban in Bevölkerung nicht unterschätzen
Wie kann es sein, dass die Taliban trotz westlicher Truppenpräsenz 20 Jahre in Afghanistan im Verborgenen überdauern konnten und nun so rasch wieder an die Macht kamen? Wenn man sich dieser Frage stellt, so dürfe man "den Rückhalt der Taliban nicht unterstützen", betonte der Grazer Religionswissenschaftler, Prof. Franz Winter, in einer aktuellen Folge des Theologie-Podcasts "Diesseits von Eden" (https://diesseits.theopodcast.at). Dies betreffe die Landbevölkerung in den entlegeneren, von den US- und Nato-Truppen kaum erreichten Gebieten natürlich stärker als die städtische Bevölkerung - aber die stark "tribal geprägten Strukturen" der afghanischen Bevölkerung am Land würden den Taliban durchaus in die Karten spielen, so Winter.
Zudem erinnerte Winter in dem Podcast-Gespräch daran, dass Afghanistan als "Durchzugsland" zwischen Europa und Asien stets umkämpft war und die Bevölkerung in Folge eine hohe Widerständigkeit gegen Fremdherrschaften sowie kulturell-ethnische Eigenständigkeit ausgeprägt habe. Dieses habe sich während der vergangenen 20 Jahre der US-Präsenz und der Konzentration beim Staatenaufbau vor allem auf die "städtischen Eliten" noch verstärkt. "Dass das jetzt alles so schnell gehen konnte, lässt sich meines Erachtens nur durch den starken Rückhalt in der Bevölkerung und die gleichzeitige Abneigung gegen eine oktroyierte Fremdherrschaft erklären".
Theologisch lasse sich dies durch einen Blick auf die religiösen Wurzeln der Taliban erhärten, so Winter weiter: Schließlich sei die "Deobandi-Bewegung", aus der sie hervorgegangen seien, eine sehr konservative und strenge "Gegenbewegung gegen die westliche Moderne" bzw. eine Reaktion auf den Westen. Während andere islamischen Reformbewegungen auf Modernisierung und Öffnung gesetzt haben, setzte die Deobandi-Bewegung laut Winter auf eine betont konservative, "rigorose" Auslegung des Islam, verbunden mit einer ethnisch-nationalen Aufladung. Darin liege auch der entscheidende Unterschied zwischen den Taliban und der Al-Quaida oder dem "Islamischen Staat", führte Winter weiter aus: Auch wenn es in der Rigorosität und Gewaltaffinität durchaus Überschneidungen gebe, seien die Taliban dezidiert "keine dschihadistische Bewegung", sondern national begrenzt.
Zurückhaltend zeigte sich Winter bei der Frage, wie sich die Situation in Afghanistan weiter entwickeln werde. Seriöse Prognosen seien schwierig, da die Taliban keine uniforme Bewegung seien, sondern intern Machtkämpfe zum Führungsanspruch und zur künftigen Ausrichtung der Bewegung existierten. Den ersten, "moderat" klingenden Pressestatements indes traue er nicht, so Winter abschließend: Dies sei wohl eher der Tatsache geschuldet, "dass die Taliban auch medientechnisch in den vergangenen 20 Jahren gelernt haben und genau wissen, wie sie die Erwartungshaltung des Westens konterkarieren können". (Podcast zum Nachhören: https://diesseits.theopodcast.at/afghanistan-taliban-wer-sie-sind-was-sie-glauben)
Quelle: kathpress