Experten: Solidarische Gesellschaft ist wichtigste Suizidprävention
Die in Österreich anstehende Lockerung des Verbots des assistierten Suizids ist nur die "Spitze eines Eisberges" von Trends, die gegen eine "lebensfreundliche Gesellschaft" gerichtet sind: Das war der Tenor einer Expertenrunde, die im Wiener Erzbischöflichen Palais im Rahmen der "Langen Nacht der Kirchen" über die diesbezügliche Entscheidung des Verfassungsgerichtshof (VfGH) und dessen Folgen diskutierte. Auftrag auch der christlichen Kirchen werde es in Zukunft verstärkt sein, den Solidaritätsgedanken aufrecht zu halten und zu fördern - besonders gegenüber einsamen, kranken und lebensmüden Menschen. Betroffenen Beistand, Zeit und Anerkennung zu geben, sei die wichtigste Suizidprävention.
Der Grundsatz des Christentums wie auch einer solidarischen Gesellschaft sei ein anderer als das Konkurrenzprinzip, bei dem sich nur die Tüchtigen und Starken durchsetzen, sagte der Moraltheologe Günther Prüller-Jagenteufel. "Für Verfechter von Suizidbeihilfe sind die Alten und Kranken, die diese in Anspruch nehmen, die Opfer auf dem Altar des Erfolgs, zugespitzt gesagt", so der Wiener Ethiker. In manchen Ländern mit liberaler Regelung zeige sich, dass Sterbehilfe zunehmend als "preisgünstigere Lösung" für die Gesamtgesellschaft nahegelegt werde und bestimmte chronische Krankheiten nur noch mit sehr hohen Prämien von den Versicherungen abgedeckt werden. "Die Frage lautet für mich, ob wir so eine Gesellschaft wollen", so Prüller-Jagenteufel.
Die Ärztin und ehemalige SPÖ-Nationalratsabgeordnete Elisabeth Pittermann betonte, die VfGH-Entscheidung sei sehr wohl ein "Dammbruch" gewesen, da sie ein "notwendiges Tabu" gebrochen habe. "'Ich darf nicht töten' muss ebenso ein Tabu sein wie: Ich darf nicht misshandeln oder Kinder nicht missbrauchen", so die frühere Präsidentin des Arbeiter-Samariter-Bundes. Sie sprach sich entschieden gegen die Mitwirkung von medizinischem und Pflegepersonal am assistierten Suizid aus, um damit nicht dessen wichtigste Aufgabe, Hilfe zu leisten, zu verspielen - auch am Lebensende. Alternativen gäbe es genug: "Von vielen der heutigen medizinischen Möglichkeiten am Lebensende hätte ich vor 50 Jahren nur träumen können", so Pittermann.
Die meisten Menschen hätten heute keine Erfahrung mit dem Tod, sondern nur eine vage "Idee", sie wollten "nicht dahinsiechen, die Selbständigkeit nicht verlieren und auf niemanden angewiesen sein", so die Beobachtung der Leiterin der Telefonseelsorge Österreich, Antonia Keßelring. Dies sei in ihren Augen auch ein Hauptgrund für die hohe Zustimmung zu Suizidbeihilfe in breiten Teilen der Bevölkerung. Um hier entgegenzuwirken, gelte es gegen die "Entfremdung vom Tod" anzugehen und dem "Angewiesensein" den Schrecken zu nehmen. "Ich wünsche mir eine Gesellschaft, wo man gefahrlos aufeinander angewiesen sein kann", sagte die Theologin und Palliativexpertin.
Die "absolute Würde des menschlichen Lebens vom Anfang bis zum Ende" hob der Wiener Weihbischof Franz Scharl in einleitenden Worten zur Diskussion hervor. Wer diese Würde antaste, "beginnt ein kleines Loch zu bohren und ist dann damit konfrontiert, dass daraus meist ein großes schwarzes Loch wird, in dem die Kultur der Lebensfreundlichkeit verschwindet". Vor dem "Sterbehilfe"-Begriff in seiner geläufigen Verwendung warnte Scharl. Für ihn sei dies ein Fall von "Sprache, die im Umfeld von Gewalt gerne geschönt wird". Ähnlich sei auch im Nationalsozialismus von "Euthanasie" gesprochen worden oder von "ethischer Säuberung" bei Völkermord. "Die Kombination von Morden und schönen Worte muss man sich immer genau ansehen", betonte der Bischof. Im Fall des assistierten Suizids sehe er für die Kirche "noch einiges an Bewusstseinsarbeit" nötig, um die Tragweite der Verbotslockerung verständlich zu machen - und zwar auch kirchenintern.
(Das Video der Veranstaltung: www.youtube.com/watch?v=9548yXGNuWI)
Quelle: kathpress