Suizidbeihilfe: Experten fordern Schutzkonzept und Palliative Care
Ein gutes Schutzkonzept für die ab 2022 erlaubte Suizidbeihilfe haben Experten aus Medizin, Wissenschaft und Ethik vom Gesetzgeber gefordert. Bei einer am Donnerstagabend vom Ludwig-Boltzmann-Institut für Grund- und Menschenrechte veranstalteten Zoom-Konferenz trafen Befürworter wie auch Kritiker des assistierten Suizids, dessen Verbot der österreichische Verfassungsgerichtshof im Dezember aufgehoben hatte, aufeinander. Etliche zentrale Argumente für die fünftägigen Beratungen von Religionsvertretern, Organisationen und Wissenschaftlern, die nächste Woche beim "Dialogforum Sterbehilfe" im Justizministerium bevorstehen, wurden hier bereits angesprochen. Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) hatte angekündigt, dass das Gesetz bis zum Sommer kommen soll.
Der Wiener Medizinrechtler Karl Stöger legte eingangs den Unterschied zwischen aktiver Sterbehilfe (Tötung auf Verlangen) und Suizidbeihilfe dar. Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) habe sich "aus prozessualen Gründen" nur mit letzterer beschäftigt, deren Verbot per Ende 2021 aufgehoben und eine Neuregelung gefordert, "die verhindert, dass die Entscheidung zum Suizid unter dem Einfluss oder Druck Dritter fällt". Der Gesetzgeber solle nun "Alternativen zum einsamen Tod mit schmerzhaften Methoden" finden, wobei es aber "nur ein Zulassen durch den Staat, keine Leistungspflicht" geben müsse. Die assistierenden Helfer zum Suizid müsse der Einzelne selbst finden. Zugleich hätten die Höchstrichter angedeutet, ein Verbot aktiver Sterbehilfe sei zulässig.
Viel zu wenig Palliativmedizin
Skeptisch hinsichtlich einer medizinisch begründeten Zugangsregelung für Suizidbeihilfe äußerte sich der Vizepräsident der Österreichischen Palliativgesellschaft, Herbert Watzke. Formuliere der Gesetzgeber etwa, diese Praxis solle für Patienten mit einer "Lebenserwartung von weniger als sechs Monaten" erlaubt sein, so sei dies aufgrund der unscharfen Diagnosen kaum haltbar. "Die Medizin kann eine Lebenserwartung wenigen Tagen sehr gut prognostizieren, bei einem halben Jahr entspricht die Vorhersagekraft laut Studien aber jener eines Münzwurfs", so der Experte, der vor "aussagelosen" Begriffen warnte. Die derzeitige Gesetzgebung sehe er als völlig ausreichend für ein selbstbestimmtes Lebensende, doch seien die heutigen Möglichkeiten noch kaum bekannt: Dass in Österreich die vorzeitige Herbeiführung des Todes bei Sterbenskranken durch Palliativer Sedierung bereits möglich ist, hätten im Vorfeld des VfGH-Entscheids nicht einmal damit befassten Richter gewusst.
Versäumnisse gebe es jedoch nicht nur bei der Bekanntmachung dieser Möglichkeiten, sondern insbesondere bei der palliativmedizinischen Versorgung, legte Watzke dar. Damit in Zukunft eine Entscheidung zum assistierten Suizid frei und ohne Druck erfolgen könne, müsse zuvor optimale Pflege und Betreuung am Lebensende vorhanden sein. Doch: "Nur 50 Prozent der Menschen, die Palliativversorgung bräuchten, haben derzeit dazu die Möglichkeit. Wird Suizidbeihilfe freigegeben, werden die anderen 50 Prozent regelrecht in den assistierten Suizid gedrängt", warnte der Professor an der Medizinischen Universität Wien, und forderte: Vor einer Diskussion über die Reform bestehender Gesetze "müsste zuerst die Struktur vorhanden sein, dass die Menschen auch adäquat gepflegt werden können".
Huainigg: Selbstbestimmtes Leben ermöglichen
Bessere Hilfen und Unterstützungen mahnte auch Franz-Joseph Huainigg, früherer ÖVP-Behindertensprecher und nunmehr Vorstandsmitglied der "Aktion Leben" ein. Der Sterbewunsch eines Menschen sei in den allermeisten Fällen ein "Hilferuf gegen Schmerzen oder Einsamkeit"; Schwerkranke bräuchten Möglichkeiten wie persönliche Assistenz und kleinen, mobile Beatmungsgeräte, um selbstbestimmt Leben zu können. Beihilfe zum Suizid hingegen werde Druck auf Menschen mit Krankheiten und Behinderungen machen, die sich dann für ihr Leben rechtfertigen müssten. "Man fragt dann: Warum brauchst du Pflege und Assistenz, du kannst ja jederzeit sterben." Anderen zur Last zu fallen sei in Ländern mit legaler Suizidbeihilfe das größte Argument für die Inanspruchnahme dieser Praxis, "und es wird auch in Österreich so kommen", zeigte sich Huainigg wenig optimistisch.
Als "zynisch" bewertete der Ex-Politiker und Autor, der aufgrund einer früheren Erkrankung selbst eine schwere Behinderung hat und auf ein Beatmungsgerät angewiesen ist, das Argument von Befürwortern der Suizidbeihilfe, diese zögere den Todeszeitpunkt hinaus - "da man nicht mehr in die Schweiz fahren muss" - und sei somit lebensverlängernd. Der "Dammbruch" sei hier vorgegeben, "denn im nächsten Schritt möchte ich auch die Giftspritze (und somit aktive Sterbehilfe, Anm.) haben, wenn ich den Giftbecher nicht mehr selbst zum Mund führen kann". Überall wo Suizidbeihilfe eingeführt wurde, sei diese Entwicklung zu beobachten, so Huainigg. Auch das Argument, assistierter Suizid würde zu einem Rückgang der nicht assistierten Suizide führen, sei "haltlos", das zeige die Schweiz vor. In den Benelux-Ländern werde Sterbehilfe mittlerweile auch bei Minderjährigen und Demenzpatienten angewendet und die Beihilfe habe sich längst von der Praxis für Ausnahmefälle zum "Regelfall des Sterbens" entwickelt.
Kummer: Machtstrukturen nicht übersehen
Vor "subtile Machtstrukturen, die man einkalkulieren muss, weil sie Realität sind" warnte Susanne Kummer, Geschäftsführerin des kirchlichen Bioethikinstituts IMABE. Wo assistierter Suizid erlaubt sei, werde er zunehmend als mögliche Behandlungsoption und für das Gesundheitssystem kostengünstigste Variante angeboten, wie etwa aus dem US-Bundesstaat Oregon bekannt sei: Krebspatienten mit nur staatlicher Versicherung verwehre man dort mitunter die Chemotherapie, während der Arzt aber assistierten Suizid sehr wohl anbiete. Die Verfügbarkeit von Optionen machte somit vulnerablen Gruppen Druck, und der Gesetzgeber könne diesem kaum etwas entgegensetzen.
Druck werde sich jedoch auch auf Seite der Ärzte bemerkbar machen, deren Verhältnis zum Patienten empfindlich gestört werde: "Wir kommen in problematische Situation, dass ein Mensch mit Suizidabsicht zum Arzt geht, der ihre subjektive Einschätzung einer unerträglichen Situation womöglich nicht teilt und die Wunschbehandlung nicht einführen kann." Sonst seien Ärzte sogar strafgesetzlich verpflichtet, eine Selbstschädigung des Patienten zu verhindern, bemerkte Kummer, um nachzusetzen: "In Bezug auf Selbstvernichtung ist das nicht mehr gültig?" Im Namen der Selbstbestimmung werde eine ganze Berufsgruppe vereinnahmt.
Befürworter: Urteil ein "Fanal der Freiheit"
Diametral anders argumentierten bei der Diskussion die Befürworter der Suizidbeihilfe, darunter der Wissenschaftliche Direktor des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Grund- und Menschenrechte, Michael Lysander Fremuth. Das VfGH-Urteil bezeichnete er als "Fanal der Freiheit", zumal individuelle Freiheit und Autonomie nun gegenüber staatlichem Zwang - in diesem Fall Zwang zum Weiterleben, welcher die "Pervertierung des Rechts auf Leben" wäre - geschützt werde. Bliebe das bisherige ausnahmslose Verbot von Sterbehilfe, wäre dies eine nicht verhältnismäßige "illiberale, paternalistische und totalitäre Rechtsordnung". Es gebe kein "kollektives Interesse am Erhalt jedes Lebens", sondern an "informierten Entscheidungen", besonders bei Angelegenheiten, die dann nicht mehr rückgängig gemacht werden könnten, so der Jurist.
Noch direkter forderte Wolfgang Obermüller, Sprecher für den Bereich Politik bei der Österreichischen Gesellschaft für ein humanes Lebensende (ÖGHL), die das höchstrichterliche Urteil erwirkt hatte, es dürfe sich niemand über die menschliche Autonomie hinwegsetzen. Suizide seien "frei verantwortete Entscheidungen, die informiert und wohlerwogen sind und vor allem dauerhaft". Beschränkungen der Suizidbeihilfe auf bestimmte Gruppen wie etwa Sterbenskranke lehne die ÖGHL ab, besser sei "kein Gesetz als ein schlechtes".
Obermüllers Vorstellung von einem guten Gesetz ist eines, das Fremdbestimmung durch Pflegekräfte, Ärzte oder Krankenhausseelsorger verhindere, wenn diese versuchten, "einen beabsichtigten Suizid auszureden oder sogar mit Zwangsjacke zu drohen". Obwohl niemand verpflichtet werden dürfe, Suizidbeihilfe zu leisten, müsse der Staat sicherstellen, "dass wohnortnah zumindest drei Krankenhäuser in jedem Bundesland Freitodhilfe anbieten". Garantiert werden müsse auch, "dass Ärzte, die [Suizidbei-]Hilfe leisten wollen, nicht daran gehindert werden". Da erst im Zuge der Suizidhilfe-Debatte das Augenmerk auf Palliativmedizin und deren Ausbau gelegt werde, seien Aktivisten für eine Liberalisierung der Sterbehilfe in Wahrheit "die größten Förderer der Palliativmedizin", so der ÖGHL-Sprecher.
Quelle: kathpress