Theologe fordert mehr "Wachheit" gegenüber Europas Gegenwart
Zu einer "geistig wachen Auseinandersetzung" seiner Zunft mit aktuellen Entwicklungen in Europa hat der Theologe Franz Gmainer-Pranzl aufgerufen. Die Theologie müsse sich in ihrer Arbeitsweise von gegenwärtigen Entwicklungen in Gesellschaft und Religiosität noch mehr als bisher herausfordern lassen, befand der Professor für "Theologie Interkulturell" an der Paris Lodron Universität Salzburg am Samstag beim Abschluss der Online-Tagung "Religionen und Identitäten in Europa: Spannungsfelder und Wechselwirkungen".
Eine intellektuelle Herausforderung sei die Präsenz von Glaubenden, Andersglaubenden und Nichtglaubenden in der säkularen Gesellschaft ohnehin für Religiöse wie auch Nichtreligiöse, betonte Gmainer-Pranzl. Erst recht gelte dies für die Kirche mit ihrem Auftrag, sich angesichts eines massiven Einbruchs der Religiosität und dem "Desinteresse" an ihr konstruktiv zu positionieren: Als interessant gelte Religion eher oberflächlich und kulturell, bei genauerer Nachfrage erkenne man jedoch immer weniger Bindung zur Institution und auch abnehmende religiöse und spirituelle Praxis.
Eine "gewisse Bescheidenheit" sei vonnöten, um im gegenwärtigen Kontext Europas "sehenden Auges Theologie zu treiben", betonte der Leiter des Salzburger "Zentrums Theologie Interkulturell und Studium der Religionen". Man dürfe sich nicht darauf beschränken, von einer vergangenen Welt zu träumen oder Utopien über Zukünftiges zu verfolgen. Statt sich in ein Getto einzuschließen und zu hoffen, nicht gestört zu werden, brauche es "Mut, um die christliche Überzeugung im gegenwärtigen Europa im Dialog mit allen Menschen der Gesellschaft zu leben".
Weder die Säkularisierung noch ihr Gegentrend seien "abstrakte Theorien", betonte Gmainer-Pranzl gegenüber Kathpress. In Europa würden Kirchen aufgegeben und es gebe religiöse Gleichgültigkeit und offensiven Atheismus, zugleich sei aber auch eine "religiöse Revitalisierung" und neue Formen von Religion - wie beispielsweise die rege Pilgerpraxis am Jakobsweg - zu beobachten.
Religionen würden aber auch Teil von Identitätsdiskursen, wenn etwa plötzlich das "christliche Abendland" nicht aufgrund von Tradition, sondern aus politischen Gründen an Bedeutung gewinne oder antiislamische Haltungen, Antisemitismus und Extremismus Aufwind hätten. Statt für solche Konflikte sofort Lösungen bereitzustellen, müsse die Theologie zunächst Gründe dieser Dynamiken verstehen - oft seien es "Versuche, Sicherheit in unsicherer Zeit zu gewinnen" - und könne hier dann erst anzusetzen.
Die interdisziplinäre Online-Tagung der Universitäten Salzburg und Fribourg hatte am Freitag und Samstag eine Momentaufnahme Europas aus verschiedenen Blickwinkeln versucht, u.a. aus historischer, soziologischer und religionswissenschaftlicher Perspektive. Ein Tagungsband der ursprünglich für März 2020 geplanten, wegen der Corona-Pandemie online abgehaltenen Veranstaltung soll in Kürze erscheinen.
Quelle: kathpress