Sozialethiker: Coronakrise erfordert neuen Blick auf Gemeinwohl
Der "politische und behördliche Dilettantismus", der sich derzeit beim Versuch, die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen, zeigt, widerspricht nach Überzeugung des Grazer Sozialethikers Prof. Kurt Remele der Gemeinwohlverpflichtung des Staates. In der Pandemie und auch sonst gelte, dass sich alle Bürgerinnen und Bürger an gewisse Regeln halten müssen, um die Gesundheit der anderen nicht zu beeinträchtigen. "Und die anderen und ich brauchen staatliche Institutionen, die diese gegenseitige Rücksichtnahme gesetzlich festschreiben und strukturell ermöglichen, gerade auch durch kompetentes staatliches Handeln", betonte der an der Uni Graz lehrende Theologe. Diesbezügliche Mängel seien derzeit offensichtlich.
Remele äußerte sich im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Kathpress anlässlich seines jüngst erschienenen Buches "Es geht uns allen besser, wenn es allen besser geht", das verschiedene Aspekte des Gemeinwohls und dessen "ethische Wiederentdeckung" beleuchtet. Gerade in herausfordernden Zeiten wie den gegenwärtigen sei es wichtig zu begreifen, wie abhängig individuelles Wohlbefinden vom Zustand von Gesellschaft und Umwelt ist.
Krisen wie die aktuelle Pandemie können nach den Worten des Sozialethikers den Gemeinsinn fördern oder aber den Egoismus verstärken. Sie würden Menschen lethargisch und depressiv machen oder aber "Erfahrungen der Solidarität und der Selbstwirksamkeit ermöglichen". Eine Minderheit sehe sich primär als Opfer staatlich verordneter, mutwilliger Freiheitsbeschneidungen. Der durch Gastprofessuren ausgewiesene US-Kenner nannte als Beispiel für ideologisch eingefärbte Ignoranz die Aufschrift "Tastes like socialism" auf der Gesichtsmaske eines amerikanischen Corona-Leugners. Der Mehrheit jedoch gelinge es, bestimmte Einschränkungen als grundsätzlich notwendig und berechtigt zu begreifen, "und zwar dann, wenn sie als vernünftig und gemeinwohlorientiert ausgewiesen sind", sagte Remele.
Der Theologe plädierte in seinem Buch und auch im Kathpress-Gespräch für ein breites, globaler Komplexität gerecht werdendes Gemeinwohlverständnis. Die Tatsache, dass die "Coronapandemie höchstwahrscheinlich etwas mit dem Missbrauch freilebender Tiere auf chinesischen Märkten zu tun" habe, hebe die Bedeutung des ökologischen Aspektes des Gemeinwohlkonzeptes verstärkt ins Bewusstsein. Laut Remele gilt es sich von einem "anthropozentrisch verengten" Verständnis zu verabschieden und Gemeinwohl so zu konzipieren, dass auch die "Mitwelt" und darin besonders die schmerzsensiblen Tiere berücksichtigt werden.
Alle Kreaturen bilden "universale Familie"
Das falle allerdings sowohl der Philosophie als auch der Theologie schwer. Eine beachtenswerte Ausnahme im Bereich der theologischen Ethik stellt nach den Worten Remeles die 2015 erschienene Papstenzyklika "Laudato si" dar. Franziskus betone darin sowohl den Eigenwert jedes einzelnen Geschöpfs als auch die Verbundenheit aller Geschöpfe miteinander; alle Kreaturen seien durch unsichtbare Bande verbunden und bildeten miteinander eine Art "universale Familie".
Das Gemeinwohlprinzip der katholischen Sozialethik sei somit eine klare Absage an all jene Konzepte, die die "Familien-Metapher" auf die eigene Clique oder die eigene Nation begrenzen, betonte Remele vor dem Hintergrund nationalistischer Versuche einer Coronakrisen-Bewältigung. "Gemeinwohl ist grundsätzlich global und universal" und die Pandemie somit eine enorme Lernanforderung für das "globale Dorf". Nicht nur angesichts der Pandemie gelte es das Gemeinwohl wiederzuentdecken, sondern auch als Reaktion auf "ungezügelten Kapitalismus und soziokulturellen Narzissmus, politischen Nationalismus und digitalen Individualismus".
Kurt Remeles Band "Es geht uns allen besser, wenn es allen besser geht. Die ethische Wiederentdeckung des Gemeinwohls" erschien im Grunewald Verlag. Es umfasst 204 Seiten und kostet 20 Euro.
Quelle: kathpress