Wiener Gesera-Gedenken: Theologische Fakultät bekennt Mitverantwortung
Mit einem symbolträchtigen Gedenkakt und dem öffentlichen Bekenntnis der Mitverantwortung hat die Wiener Katholisch-Theologische Fakultät der Vernichtung der jüdischen Gemeinden im damaligen Herzogtum Österreich bei der "Wiener Gesera" von 1421 gedacht. Die Wiener Gesera habe "mit fakultärer Rückendeckung" zur Auslöschung der jüdischen Gemeinde von Wien geführt, heißt es in einer Erklärung, die der Dekan der Fakultät, Prof. Johann Pock, bei der Gedenkfeier am Freitagmorgen an den Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG), Oskar Deutsch, überreichte. Auf den Tag genau vor 600 Jahren - am 12. März 1421 - fand die Vernichtung der Juden im damaligen Herzogtum Österreich mit der Verbrennung von 200 Juden ihren Höhepunkt.
An dem Gedenken, das gemeinsam von Universität Wien, Katholisch-Theologischer Fakultät und Israelitischer Kultusgemeinde ausgerichtet wurde, nahm neben Dekan Pock und Präsident Deutsch auch der Wiener Universitäts-Rektor Heinz Engl und die Direktorin des Jüdischen Museums, Danielle Spera, teil. Der Gedenkakt und die Übergabe der Erklärung erfolgte im Kellergeschoß des Jüdischen Museums am Judenplatz an den Grundmauern der früheren, in Folge der Gesera abgerissenen Synagoge. Den Abschluss bildete ein gesungenes Totengedenken.
Das Ereignis der Wiener Gesera erinnere daran, "dass Juden über Jahrhunderte hinweg Opfer willkürlicher Gewalt, religiösen Hasses und theologischen Fanatismus waren", heißt es in der Erklärung. "Damit wurde bereits ins Werk gesetzt, was die Schoah im 20. Jahrhundert - ohne den angebracht entschiedenen Protest von Kirchen, Theologen und Kirchenbasis - am gesamten europäischen Judentum verbrechen sollte."
Vierfache Selbstverpflichtung
Die Erklärung spricht darüber hinaus in vier Punkten eine Selbstverpflichtung aus, "den Dialog mit dem Judentum in Lehre, Forschung und gelebter Praxis noch zu verstärken", so Pock. "Für die Katholisch-Theologische Fakultät ist das Verhältnis zum Judentum historisch mit vielen Hypotheken belastet. Die Mitverantwortung ihrer Theologen für die Wiener Gesera von 1421 wie auch für jene von 1670 ist uns Mahnung und Auftrag, jeglichen Antijudaismus und Rassismus aufzudecken und aktiv zu verhindern", unterstrich der Dekan gegenüber Kathpress.
Die Selbstverpflichtung, die die Erklärung ausspricht, beinhaltet eine Vertiefung der in den Studienplänen vorgesehenen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart jüdischer Gemeinschaften, eine Reflexion auf dieses Thema in allen relevanten Fächern, die verstärkte Kooperation in diesem Thema auch über die Fakultätsgrenzen hinaus und schließlich die Intensivierung des Dialogs mit dem Judentum. "Damit ist verbunden die ernsthafte, kritische Selbstbefragung vor allem der Grundlagen von Theologie und ihrer Wirkungen sowie der Überwindung antijüdischer Positionen."
"Dass die Universität Wien sich der Anfänge Ihrer unrühmlichen Geschichte im Umgang mit Jüdinnen und Juden stellt, ist zu begrüßen. Wünschenswert wäre, allgemein mehr Bewusstsein für die antijüdische Vergangenheit der Wiener Universität zu schaffen - von der Gesera bis zur NS-Zeit und darüber hinaus", bemerkt Danielle Spera, Direktorin des Jüdischen Museums. Und Universitäts-Rektor Heinz W. Engl fügte laut einer Aussendung der Universität hinzu: "Gerade auch für die Universität gilt der Befund der Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann: Nicht das Vergessen, sondern das Erinnern wird zum Motor der Erneuerung, wenn es sich zugleich als Basis für das neue Selbstbild erweist."
"Kein Vertreter der Fakultät erhob die Stimme"
Überlieferte Sitzungsprotokolle der Fakultät dokumentieren etwa, dass bei Sitzungen "vor allem über die Vielzahl an Juden gesprochen [wurde], über ihr genusssüchtiges Leben und einiges in ihren Büchern, das fluchwürdig ist, wie die Beleidigung des Schöpfers, die Gotteslästerung Christi sowie aller Heiligen und die äußerste Herabsetzung aller Christen." Man thematisierte zudem übliche und aktuelle Beschuldigungen, so den Vorwurf der Hostienschändung, der später als offizielle Begründung für das Todesurteil gegen die verbliebenen rund 200 Juden diente. "Kein Vertreter der Fakultät erhob die Stimme gegen das schreiende Unrecht, das sich über Monate hinweg abspielte und in der Hinrichtung von über zweihundert Juden am 12. März 1421 auf der Erdberger Gänseweide gipfelte", heißt es dazu in der nun veröffentlichten Erklärung der Fakultät.
Zudem wurden Steine der abgerissenen Synagoge in der Folge für den Ausbau von Universitätsgebäuden verwendet und konfiszierte hebräische Bibelhandschriften in die Bibliothek der theologischen Fakultät aufgenommen worden. "Theologen, gerade auch in Wien, trugen über lange Zeit dazu bei, ein verächtliches Bild von Juden zu verbreiten. Sie wurden damit zu Komplizen der staatlichen Übergriffe", so die Wiener Fakultät in ihrer Erklärung.
Am 23. Mai 1420 gab Herzog Albrecht V. den Befehl, alle Juden im Herzogtum Österreich gefangenzunehmen. Das war der Startschuss für eines der dunkelsten Kapitel in der österreichischen Geschichte: die Vertreibung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung von Wien und Niederösterreich zwischen Mai 1420 und dem 12. März 1421. Es kam zur völligen Auslöschung aller jüdischen Gemeinden und allen jüdischen Lebens im damaligen Österreich, durch Zwangstaufen, Vertreibungen, Plünderungen und Mord. Die "Wiener Gesera" fand am 12. März 1421 mit der Verbrennung der etwa 210 überlebenden Wiener Juden auf der Erdberger Gänseweide - damals noch vor den Toren und Mauern Wiens - ihren traurigen Höhepunkt.
Die Universität Wien feiert zudem am 12. März traditionell ihren Gründungstag, der sich heuer zum 656. Mal jährt, mit einem "Dies Academicus". Corona-bedingt sind die Feierlichkeiten heuer ausgefallen, es fand einzig die traditionelle Kranzniederlegung am Grab von Herzog Rudolph IV. u.a. mit Kardinal Christoph Schönborn im Stephansdom statt. (Infos: https://ktf.univie.ac.at)
Koordinierungsausschuss-Präsident Jäggle dankbar
Begrüßt wurde das Schuldbekenntnis sowie die Selbstverpflichtungserklärung der Wiener Katholisch-Theologischen Fakultät im Blick auf das 600-Jahr-Gedenken an die "Wiener Gesera" u. a. vom Präsidenten des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Martin Jäggle. Es sei "eine Freude und in dem Ausmaß nicht absehbar gewesen", so Jäggle gegenüber Kathpress, dass die Fakultät sich nicht nur ihrer Verantwortung an der damaligen Verfolgung und Ermordung der Juden im Jahr 1421 bekennt, sondern "als Institution Verantwortung übernimmt, auf Zukunft hin anders zu handeln".
Als Dekan der Wiener Katholisch-Theologischen Fakultät hatte der emeritierte Religionspädagoge bereits vor rund zehn Jahren einen ersten Anstoß zu dem Gedenken gegeben und dieses Ziel bis heute verfolgt und begleitet.
Der amtierende Dekan der Fakultät, Prof. Johann Pock, unterstrich im Gespräch mit Kathpress, dass die Selbstverpflichtungserklärung der Fakultät vor allem das Bekenntnis bedeute, "sich nicht auszuruhen auf dem Erreichten, sondern bewusst auch in der Forschung neue Akzente zu setzen". Jede Generation an Studierenden müsse neu herangeführt werden an die Bedeutung des Dialogs speziell auch mit dem Judentum. Darin seien sich im Übrigen alle theologischen Fakultäten in Österreich einig.
Dankbar für die Initiative zeigte sich auch IKG-Präsident Oskar Deutsch. "Sonst gedenken wir immer der Toten des Holocausts. Jetzt der Gesera zu gedenken, ist etwas sehr Spezielles, für das ich der Universität sehr dankbar bin", sagte Deutsch gegenüber Kathpress. Zudem zeige dieses Gedenken, "dass Antisemitismus immer schon in der Gesellschaft einen Ort hatte und nicht mit dem Mord beginnt, sondern mit Hassparolen und Worten". Aber es werde zugleich durch das heutige Gedenken sichtbar, "dass das Judentum schon seit über 600 Jahren Teil der österreichischen Gesellschaft war. Und das sollen alle wissen."
Differenzen bei historischer Einordnung
Für Aufsehen sorgten am Rande des Gedenkens und der Erklärung der Katholisch-Theologischen Fakultät Aussagen des Wiener Kirchenhistorikers Prof. Thomas Prügl. Dieser hatte sich in der Wochenzeitung "Die Furche" sowie im Theologie-Podcast "Diesseits von Eden" zur Gesera zu Wort gemeldet und unter Verweis auf die Quellenlage Vorbehalte gegenüber einer Verantwortungsübernahme seitens der Fakultät geäußert. Die Quellenlage erlaubt es nicht, die Verantwortung der Wiener Fakultät und der Professorenschaft an der Wiener Gesera eindeutig zu bestimmen, so Prügl. Dies einzuräumen sei kein Akt des Revisionismus, sondern folge aus der nüchternen Quellenanalyse.
So betonte Prügl u. a., dass es falsch sei, von einer grundsätzlich judenfeindlichen Stimmung zu sprechen. Juden seien im 15. Jahrhundert gesellschaftlich gut integriert gewesen, die Katholische Kirche habe zudem vom Papst bis zu den Bischöfen in Pogromen immer wieder auch eine Schutzfunktion für Juden gehabt. Gewiss gebe es die auch im aktuellen Gedenken zitierten Fakultätsprotokolle, die die Juden diffamierten - in den zeitgenössischen Chroniken und der gleichnamigen jüdischen Quelle namens "Wiener Gesera" finde sich aber kein Hinweis, der auf eine direkte Verantwortung der Universität schließen lasse.
Gewiss habe Albrecht V. religiöse Gründe für die Judenverfolgung geltend gemacht, die auch seitens der Fakultät thematisiert wurden - es müsse jedoch bezweifelt werden, ob der Herzog in dieser Sache tatsächlich auf den Rat der Fakultät hörte oder ob nicht vielmehr persönliche Berater wichtiger gewesen seien: "Auf wen sich der Fürst verlassen hat, das waren vor allem individuelle Ratgeber, von denen viele aus dem Klerus kamen. Ich denke daher, dass diese individuellen Ratgeber sehr viel entscheidender waren für politische Entscheidungen und auch für strategische Überlegungen des Herzogs als eine Universität."
Durch diese Hinweise wolle er keinesfalls das Gedenken schmälern, stellte Prügl weiters klar: Es sei "in jedem Fall richtig und gerechtfertigt, dass die Universität Wien und vor allem auch die theologische Fakultät dieses Ereignisses gedenkt", da sie sich die Frage stellen müsse: "Wie weit haben Theologen, haben Prediger, die an der Fakultät ausgebildet wurden, dazu beigetragen, dass ein Feindbild den Juden gegenüber entstanden und verhärtet worden ist und dass die Juden insgesamt nicht individuell, sondern sogar insgesamt als Gruppe verteufelt wurden". Es bestehe daher bis heute eine "Bringschuld der christlichen Theologie", die "unheilvolle Geschichte des Christentums mit dem Judentum aufzuarbeiten und hier auch die Rolle der Theologie genau zu benennen".
Zu einer anderen Einschätzung kommt indes der Wiener Fundamentaltheologe Prof. Wolfgang Treitler. Die theologische Fakultät sei damals "ganz im antijüdischen Mainstream" gewesen und habe sich gegenüber der Judenverfolgung "in Gleichgültigkeit ergangen". Dies sei auch bei historischer Distanz betrachtet "zutiefst erschütternd", so Treitler, der maßgeblich an der am Freitag überreichten und veröffentlichten Erklärung der Fakultät mitgearbeitet hat, gegenüber Kathpress. "Ich bin nicht verantwortlich für das, was die Leute damals gedacht und geschrieben haben, sondern ich bin verantwortlich für die Rezeption dieser Dinge heute in einem hoffentlich doch ganz anderen theologischen Setting."
So ortet Treitler weiterhin bestehende Desiderate in der katholischen Theologie, die Bedeutung antijudaistischer Stereotype in der Theologie für historische Ereignisse wie die Gesera oder die Schoah angemessen zu würdigen und zu reflektieren. Zwar schmücke man sich auch in der christlichen Theologie gern mit jüdischen bzw. hebräischen Begriffen und Einsprengseln, eine wirkliche Verinnerlichung bis hin zu einer Revision eigener Lehrinhalte sei aber "fundamental noch zu leisten", mahnte der Theologe.
Quelle: kathpress