Gabriel: Corona-Krise rückt Idee der "aktiven Bürgerschaft" in Fokus
Die aktuelle Corona-Krise zeitigt nicht nur medizinische oder soziale Folgen, sondern rückt auch neu in den Blick, was in Österreich bislang zu wenig stark ausgebildet ist: die Idee einer "aktiven Bürgerschaft". Darauf haben die Wiener Sozialethikerin Ingeborg Gabriel und der Leiter der Abteilung Parlamentswissenschaftliche Grundsatzarbeit der Parlamentsdirektion, Christoph Konrath, hingewiesen: Gute Politik basiere auf gelebtem "citizenship" und aktiver Bürgerbeteiligung, so Konrath, und Gabriel ergänzt: "Wir sollten diese Idee der aktiven Bürgerschaft auch innerkirchlich wieder mehr fördern." Darin bestehe das politische Moment des Christentums. Die Theologin und der Jurist äußerten sich in einem Doppelinterview in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "miteinander" des Canisiuswerkes.
Die Corona-Krise mache auf der einen Seite deutlich, dass eine Demokratie wie die österreichische auf institutioneller Ebene nach wie vor gut funktioniere; zugleich aber werde deutlich, dass es "einen gewissen Nachholbedarf" im Blick auf parlamentarische wie gesellschaftliche Diskussionsprozesse gebe, so Konrath. Das Modell der repräsentativen Demokratie sei schließlich ein "sehr anspruchsvolles Modell", das Transparenz seitens der Politik bis hin zum Bürger verlange und den Bürger befähigen müsse, an Debatten teilzuhaben.
Es brauche daher Investitionen im Bereich der politischen Bildung, zeigten sich beide überzeugt - um "sich als Bürger aktiv in Debatten einbringen" zu können und zugleich um politische Entscheidungen besser nachvollziehen und gegebenenfalls kritisch hinterfragen zu können. Schließlich würden die Wahlen etwa von Donald Trump oder zuvor auch von Silvio Berlusconi in Italien die Frage aufdrängen, wie es dazu kommen konnte, dass Wähler diese Politiker in verantwortliche Positionen brachten: "Ist es schwieriger geworden, heute eine reife Wahlentscheidung zu treffen, sie sich sachgemäß an der politischen Wirklichkeit orientiert?"
In diesem Zusammenhang setzt Gabriel ihre Hoffnungen u.a. auf den Ethikunterricht: So werde politische Bildung oftmals nur als "Anhängsel an den Geschichtsunterricht" betrachtet - das sei aber deutlich zu wenig, um die notwendige Wissensbasis auch für sozialethisch anspruchsvolle Debatten zu schaffen. "Da setze ich meine Hoffnungen auch auf den Ethikunterricht."
Christlich inspirierte Politik
Orientierung im Blick auf politische Debatten und auch das individuelle Wahlverhalten könnte aus christlicher Sicht etwa die Katholische Soziallehre bieten, erinnerte Gabriel weiters: Diese halte "durchaus Prinzipien bereit, die für eine gute Wahl hilfreich sind: etwa das Prinzip der Solidarität, die Frage, welche Folgen eine Wahlentscheidung für die Armen und Ärmsten haben könnte, welche Folgen sich für die Umwelt aus ihr ergeben (...), das Prinzip der Subsidiarität, die Einhaltung der Grundrechte und vieles mehr." Christen würden schließlich "in der Pflicht stehen, Welt und Gesellschaft mitzugestalten" - auch wenn sie zugleich wüssten, "dass Gott das letzte Wort hat und dass wir uns hüten sollten vor dem Anspruch, eine perfekte Gesellschaft errichten zu wollen."
Begrüßt wurde von der Sozialethikerin zudem, dass es nicht mehr "die" christliche Stimme in der Politik gebe: Schließlich fänden sich heute "christliche Prinzipien und Fragmente in vielen Parteien - und das fördert die politische Dynamik." Gabriel weiter: "So hat etwa in der ÖVP eine Debatte über christlich-soziale Werte und deren Stellenwert in der Partei eingesetzt, da man gesehen hat, dass Kernwähler abhandenkommen, weil sie etwa bei den Themen Flüchtlingspolitik oder Klimawandel ihre christlichen Überzeugungen woanders besser vertreten sehen. Die Vorstellung, dass es nur eine für Christen wählbare politische Option gibt, entspricht einfach nicht mehr dem heutigen Verständnis, auch nicht jenem der Kirchen, und darin sehe ich einen Fortschritt."
(Interview im Wortlaut: https://www.miteinander.at/page/miteinander/themen/einegutewahl/article/11227.html)
Quelle: kathpress