Telefonseelsorge: "Das Weihnachtsungeheuer kommt jedes Jahr"
Die Weihnachtsfeiertage scheinen in diesem Jahr trostlos zu sein: Es gibt weder Großfamilientreffen, noch Glühweinschwaden am Christkindlmarkt oder Weihnachtsfeiern mit Freunden oder Kollegen. Ängste, Sorgen oder Stress würden zu den Feiertagen "dazugehören", meinte die Leiterin der Telefonseelsorge Wien, Antonia Keßelring, im Kathpress-Interview. Egal ob mit oder ohne Corona-Krise, eines sei rund um die Feiertage nämlich fix: "Das Weihnachtsungeheuer kommt jedes Jahr und schleicht umher."
Die Feiertage seien eine "zweischneidige Sache", konstatierte die Seelsorgerin. Einerseits sei die "stille Nacht" eine von Erwartungen überfrachtete Zeit, in der man von der "guten alten Zeit träume" und jährlich vergesse, dass einem "die Schwiegermutter oder die Kinder zu Weihnachten ärgern". Trotzdem gebe es die Sehnsucht nach einem friedlichen Fest mit der Familie. "Also warum sind wir nicht froh, dass es dieses Jahr anders ist, anstatt zu jammern und zu fragen, wann Weihnachten denn wieder so wird, wie es wahrscheinlich nie war?", so der Vorschlag der Seelsorgerin.
Anders sei in diesem speziellen Corona-Jahr jedoch die tiefe gesellschaftliche Verunsicherung. Dazu kämen Einschränkungen "von außen" was etwa die Anzahl der feiernden Personen oder Ausgangsbeschränkungen betreffe oder coronabedingte Sorgen, wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit. Beschränkungen solcher Art würden das Fest in diesem Jahr "weniger frei" erscheinen lassen, stellt Keßelring fest.
Dem "Weihnachtsungeheuer" können aber auch tiefere Wunden zugrunde liegen. "Viele Menschen vermissen speziell um den 24. Dezember Verstorbene oder erinnern sich an traumatische Begebenheiten", klärt Keßelring auf. Anrufer würden etwa von dramatischen Trennungserfahrungen erzählen, die sie jährlich am Heiligabend einholten; andere berichten von einer wiederkehrenden Angst vor Einsamkeit, Stress oder Streit.
Sicher feiern
"Es gibt kein Weihnachten, bei dem alles gut ist, aber es muss heuer auch kein Weihnachten geben, bei dem nichts gut ist", versucht die Seelsorgerin zu beruhigen. Aktuell liege der Fokus stark auf dem, was wir nicht machen können. "Aber wir können uns auch fragen, was denn bisher schön an dieser Zeit war und was davon trotz Coronaeinschränkungen noch geht", so die Theologin. Etwa Strohsterne basteln, Kekse backen, Kerzen anzünden, telefonieren oder dekorieren - all das ginge auch heuer. Auch die Wiener Innenstadt sei so geschmückt, wie jedes Jahr. "Das alles geht noch und vielleicht geht sogar noch mehr, als wir uns denken", ermutigt Keßelring.
Auch wenn es keine Partys und Feiern gebe, könne man gemeinsam mit Menschen feiern: "Ich persönlich habe vor für meine Nachbarn Punsch zu kochen und auch eine nicht-alkoholische Variante. Dafür werde ich sie bitten ihr Häferl herauszustellen, ich schenke ein und wir können mit Sicherheitsabstand gemeinsam Punsch trinken. Auch das erzeugt Verbundenheit."
"Aktuell muss trotz aller Sehnsüchte auch der Sicherheitsgedanke vorherrschen", so Keßelring. In Zeiten voller Intensivstationen müsse man "mit Verantwortung und Sicherheitsbewusstsein agieren und feiern". Zudem gebe es Schnelltests, Video-Konferenzen mit der Großfamilie oder die Möglichkeit eine Woche vor den Feiertagen "Kontakte zu fasten", um so mit jemandem, der ebenfalls gefastet hat, Weihnachten feiern zu können. "Sie sehen, es geht viel, wenn man will und kann", ermutigt die Wiener Telefonseelsorge-Leiterin.
Reden hilft
All jenen, die die weihnachtliche Trauer oder der Stress zu viel wird, rät Keßelring mit vertrauten Personen oder auch Experten der Telefonseelsorge zu sprechen. "Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind auch während der Weihnachtsfeiertage erreichbar"; unter der österreichweiten kostenlosen Telefonnummer 142 könne man Frust und Unsicherheit besprechen. Die Themenpalette der Anrufenden reiche dabei von "blöden Geschenken bis hin zu eskalierenden Beziehungsthemen".
Corona, Lockdowns und die sozialen Folgen der Krisen beeinträchtigten aber auch die psychische Verfassung vieler Menschen. "Die Feiertage können die bestehenden Konflikte nun nochmals bestärken." Hier könne es helfen, sich anonym und vertraulich an die Telefonseelsorge zu wenden. Ein Tipp der Seelsorgerin, damit es heuer nicht im Streit endet: "Reden Sie schon vorher über ihren Ärger, bevor der Frust anfängt. Nachher ist auch ok, aber vor dem Streit haben Sie noch mehr Möglichkeiten für Deeskalation."
Für Menschen mit Sorgen und Nöten ist die Telefonseelsorge auch über Weihnachtsfeiertage erreichbar, so Keßelring. "Wer lieber schreibt", kann sich via Chat- oder Mail-Beratung an die Telefonseelsorge wenden (www.onlineberatung-telefonseelsorge.at).
Quelle: kathpress