Theologe: Sozialen Corona-Wunden Vorrang vor Liturgie einräumen
Die sozialen Wunden, die durch die Corona-Pandemie sichtbar geworden oder neu entstanden sind, müssen an erster Stelle stehen - nicht nur für die Politik, sondern auch auf der kirchlichen Agenda. Das hat der Grazer Liturgiewissenschaftler Peter Ebenbauer gegenüber Kathpress am Montag im Rückblick auf den von ihm mitveranstalten Online-Studientag "Kirche ohne Gottesdienst?" an der Grazer Uni betont. Wo Leben massiv gefährdet und bedroht ist, habe konkrete Hilfe Vorrang vor allem anderen - auch vor der Liturgie. "Diese Hilfeleistung selbst wird zum Gottesdienst", wies der Theologe hin.
Zugleich ließ Ebenbauer in seinem Resümee Kritik an den kirchlichen Repräsentanten und deren Agieren in der Corona-Krise anklingen: Liturgie im Christlichen Sinn werde immer körperlich-sinnliche Präsenz und reale physische Zusammenkunft für sich beanspruchen. Darauf verzichten zu müssen, sei ein "schmerzlicher Verlust, der nur hingenommen werden kann, wenn es um die Vermeidung akuter Gefahren geht". Ebenbauer weiter: "Was der Lockdown von Kunst und Kultur für die Gesellschaft bedeutet, das bedeutet der Lockdown der Liturgie für die Kirchen und Religionsgemeinschaften." Bei öffentlichen Stellungnahmen kirchlicher Verantwortungsträger würde sich der Theologe - "bei allem Verständnis für strenge Maßnahmen im Blick auf die Gottesdienste" - eine ähnlich differenzierte und kritische Haltung erwarten wie sie Kulturvertreter zeigten.
Mehr als 70 Interessierte hatten am Freitag an dem von den beiden Instituten für Systematische Theologie und Liturgiewissenschaft sowie für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie an der Grazer Theologischen Fakultät teilgenommen. Referierende waren neben Ebenbauer u.a. die Pastoraltheologen Rainer Bucher (Graz), Johann Pock (Wien), die Liturgiewissenschaftler Basilius J.Groen und Saskia Löser sowie Vertreter seelsorglicher Praxisfelder.
"Überlebensfrage der Kirchen"
Zwischen religiös motivierter Leugnung oder Verharmlosung der Corona-Gefahr und kritikloser Akzeptanz staatlicher Einschränkungen gilt es nach den Worten Ebenbauers für die Kirchen einen dritten Weg zu beschreiten: Dabei gehe es um "durch Tradition und Innovation inspirierte" kreative Ausbalancierung von Risiko und Wagnis: Der Liturgiewissenschaftler plädierte für Gottesdienste in neuen, Corona-kompatiblen Formaten "mit dem Fokus auf Begegnung, Beteiligung und Miteinander-Tun", auch unter Zuhilfenahme digitaler und virtueller Kommunikationsformen.
Der Rückgriff auf "priesterzentrierte Solo-Liturgien" spiegle jedoch ein Kirchen- und Liturgieverständnis, "in das wir nicht mehr zurückfallen dürfen". Ebenbauer plädierte demgegenüber für eine netzwerkförmige, basiskirchliche Glaubenspraxis und Gottesdienste sowie für offene Angebote der Begegnung, der Besinnung, des Gebets und des Gottesdienstes, "ohne exklusive Kontrollinstanz des Klerus". Die Überzeugung des Theologen: "Mit oder ohne Corona: das wird eine Überlebensfrage der Kirchen in den nächsten Jahrzehnten sein."
"Wer stand bei Jesus im Mittelpunkt?"
Einen kritischen Blick auf das kirchliche Agieren in der Corona-Krise warf auch der Grazer Pastoraltheologe Rainer Bucher bei der Online-Tagung. Seine Beobachtung: "Theologisch wurden primär innerkirchliche Themen diskutiert, das gesellschaftliche Außen ist wenig im Blick." Unübersehbar sei auch, dass der fortschreitende "Monopolverlust des kirchlichen Amtes" mit verstärkter Kreativität der kirchlichen Basis korreliere. Buchers Appell nicht nur an die Teilnehmenden: "Lasst uns als Kirche nicht uns selbst in den Mittelpunkt stellen, sondern die, die bei Jesus im Mittelpunkt stehen." Auch Vergeben und Verzeihen gelte es angesichts gesellschaftlicher Spaltungen mehr zum Thema zu machen.
Auf die Spurensuche nach der "liturgischen Normalität von morgen" begab sich die Liturgiewissenschaftler Saskia Löser mit ihrem Kollegen Bruno Almer: Digitale Endgeräte würden weiterhin als Erweiterung des Kirchenraums genutzt, Zuschauende würden dabei partizipierende Beteiligte. Und der Kreativitätsschub durch Corona solle auch ein bleibender Impuls sein, auf die Vielfalt an liturgischen Formen und auf die Qualität der Liturgie zu achten, so Löser und Almer. Vertieft nachzudenken sei jedenfalls über die Frage nach der Sakramentalität, der "Körperlichkeit" von Liturgie sowie nach Gemeinschaft und Partizipation.
Im Rückblick auf die Vorträger seiner Kolleginnen und Kollegen meinte Mitveranstalter Peter Ebenbauer gegenüber Kathpress, die Pandemie habe "schon länger existierende Polarisierungen und Problemzonen gottesdienstlicher Praxis" freigelegt und zugleich eine Vielfalt an kreativen Versuchen zur Aufrechterhaltung des gottesdienstlichen Lebens hervorgebracht. Beides sei beim Studientag ausgiebig thematisiert worden. Der Grazer Theologe nannte Aspekte wie die Stärkung haus- und basiskirchlicher Aktivitäten, das gottesdienstliche Zusammenwirkens von Klerus und Laien oder die Verschränkung von Liturgie und Diakonie. Jedenfalls zeige sich, dass die Corona-Krise "einen vielschichtigen Prozess kirchlich-liturgischer Besinnung und Belebung darstellt".
Quelle: kathpress