Zulehner: Sterbehilfe-Debatte zeigt Polarisierung der Gesellschaft
Die Debatte um den assistierten Suizid zeigt für den Wiener Pastoraltheologen em.Prof. Paul Zulehner eine "in der Tiefe der Kultur" vorhandene gesellschaftliche Polarisierung. Zulehner spricht in einem aktuellen Beitrag auf seinem Online-Blog (https://zulehner.wordpress.com/) von "Sterblichen" und "Unsterblichen". Nach der letzten Religionsstudie in Österreich (2020) lebe ein Drittel der Menschen in einer endlichen Welt von 90 Jahren. Sind diese vorbei, sei für sie "definitiv alles aus". Ganz anders die übrigen Menschen: Für sie sei der Tod nicht das definitive Ende, sondern ein Übergang in eine neue Existenzweise. Dieser Unterschied in der "Wirklichkeits"-Auffassung habe auch enorme Auswirkungen auf die Frage der aktiven Lebensbeendigung bzw. des assistierten Suizids.
42 Prozent der "Unsterblichen" seien grundsätzlich dagegen, das Leben von Menschen in der letzten Lebensphase aktiv zu beenden, unter den "Sterblichen" seien es hingegen lediglich 9 Prozent.
Zulehner dazu: "Ich kann diesen Zusammenhängen etwas abgewinnen. Wenn jemand davon überzeugt ist, dass mit dem Tod 'definitiv alles aus' ist, kann es in seiner 'Wirklichkeit' durchaus Sinn machen, eine unerträglich leidvolle Wegstrecke hin zu diesem Ende gleichsam abzukürzen und das Sterbeleid outzusourcen. Ob jemand dazu eine Assistenz beansprucht oder auch nicht, erscheint unterm Strich ziemlich nachrangig."
Der Pastoraltheologe fügt seinen Bemerkungen freilich hinzu, dass es nicht zu leugnen sei, "dass das Sterbeleid auch für Menschen unerträglich werden kann, wenn sie auf eine Auferstehung hoffen".
Die Ursache sehen, nicht die Folgerungen beklagen
Den Kirchen sei zu raten, so der Pastoraltheologe, sich nicht allein mit der Folgerung zu beschäftigen, die jemand aus seiner "Wirklichkeitsauffassung" ableitet. Vielmehr sollten die Kirchen die Ursachen in den Blick nehmen. "Wie kommt es, dass in einer christlich geprägten Kultur, die von der Botschaft der Auferstehung lebt, ein Drittel davon ausgeht, dass es eine solche nicht gibt?", so die Frage Zulehners. Und er legt nach: "Scheitern die Kirchen damit nicht mit ihrer Kernbotschaft? Sollten da statt der Osterglocken nicht die Alarmglocken läuten?" In einer solchen Situation nütze es wenig, über die Folgerungen zu klagen, welche die Menschen aus einer nicht mehr österliche definierten Wirklichkeitsauffassung ziehen.
Zulehner kam auch konkret auf die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes zu sprechen, der das Verbot der Mitwirkung am Selbstmord als verfassungswidrig am Freitag aufgehoben hatte. So müsse etwa erst geklärt werden, was unter "menschenwürdigem Sterben" in einer solidarischen Kultur und unter "unerträglichen Schmerzen" in einer Zeit der Hightechmedizin zu verstehen sei.
Und es sei für ihn auch nicht klar, wie verhindert wird, dass nicht Sekundärinteressen wie etwa Belastung durch Pflege oder Kosten des oft langen Sterbens nicht das hehre Argument freier Selbstbestimmung unbemerkt unterwandern könnten. Zulehners Fazit: "Da kommt auf den Gesetzgeber eine 'Heidenarbeit' zu.
Quelle: kathpress