Wiener Moraltheologin: Nach Corona nicht zum Alten zurückkehren
Schon jetzt inmitten der Coronakrise sollten Überlegungen darüber angestellt werden, welche Strukturen und Abläufe der Gesellschaft nach der Pandemie besser gestaltet werden können als bisher: Dazu hat die Wiener Moraltheologin Sigrid Müller am Mittwoch bei der Herbsttagung der Orden aufgerufen. Der derzeitige Lockdown ermögliche jenen Abstand vom Alltag, der für Nachdenkprozesse notwendig sei und sonst meist fehle, erklärte die Expertin in einem Impulsreferat zu dem als Videokonferenz veranstalteten "Missionstag", der unter dem Motto "Die Wertefrage im Zusammenleben" stand. Wer nach Corona bloß wieder zum Alten zurückkehren wolle, habe "die Chance verpasst".
"Nicht nur die Frage nach dem Virus und dessen Kontrolle sollte uns beschäftigen, sondern auch, was danach passiert", unterstrich die Vorständin des Instituts für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Wien. Katastrophen lösten stets eine Sinnsuche der Menschen mit neuen persönlichen Einsichten und mitunter auch Verhaltensveränderungen aus. Müller: "Die Pandemie zeigt uns wie ein Brennglas, was im Argen liegt und was man viel zu lange zu wenig bedacht hat." Viele Bereiche stünden auf dem Prüfstand, so die Theologin. Als konkrete Beispiele nannte sie die Bildung von Kindern aus sozial schlecht gestellten Familien ebenso wie die Situation von Menschen in prekären Arbeitsbedingungen, die Pflege, den Bereich Flucht und Migration sowie die Ökologie.
Ein Perspektivenwechsel könne gelingen, wenn die Gesellschaft nach jenen Werten suche, die für ein "sinnvolles Leben" notwendig seien und die das Menschsein neben seiner biologischen Verfasstheit ausmachten. Müller zählte dazu etwa "Freundschaft und Sozialleben, Selbstausdruck, Sport und Kultur, aber auch Besinnung, Orientierung und Religiosität." Auch ein Fokus auf "soziale Menschenrechte" sei wichtig, wobei Papst Franziskus ein wichtiger Impulsgeber sei: Der Pontifex habe wiederholt neue Wirtschafts- und Entwicklungsmodelle eingefordert, bei denen die bisher Ausgeschlossenen - darunter auch die "Schwester Erde" - besser einbezogen und zu Hauptakteuren gemacht würden.
Aufbruch statt Introversion
Um der Katastrophe etwas Positives abzugewinnen und den Blick nach vorne statt zurück zu richten, dürfe auch in der Kirche nichts beim Alten bleiben, sagte Müller und verwies hier erneut auf den Papst. Dieser hatte schon 2013 in seiner Antrittserklärung "Evangelii Gaudium" Reformen eingefordert sowie eine "missionarischen Entscheidung, die fähig ist, alles zu verwandeln, damit die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient". Die Seelsorge müsse "expansiver sein und eine offene Haltung des Aufbruchs zeigen, statt in eine Art kirchliche Introversion zu verfallen", befand auch die Wiener Theologin.
Die Ordensgemeinschaften könnten für die Schaffung von "attraktiven Orten" des Nachdenkens, der Begegnung und des Austauschs wertvolle und attraktive Beiträge leisten, so die Überzeugung Müllers. Klöster könnten etwa jene Wirtschaftsleute, die bei ihnen eine Auszeit zur Erholung verbringen möchten, zur Mitentwicklung von konstruktiven Ansätzen für die Vorbereitung der Ordensschulen auf die "neue Zeit" einladen und somit zu den gefragten "positiven Erzählungen" beitragen, schlug die Theologin vor. Ein Vorteil der Orden sei auch, dass sie schon jetzt mit den "Verlierern" der Corona-Krise arbeiteten und somit vorausschauende Initiativen starten könnten, wurde in einer Online-Diskussion der rund 40 teilnehmenden Ordens-Missionsbeauftragten deutlich.
Auch auf den interreligiösen Dialog kam die Theologin in einem weiteren Impulsreferat zu sprechen. Hintergrund war das im Februar 2019 von Papst Franziskus und dem Kairoer Großimam Ahmad Mohammad Al-Tayyeb unterzeichnete Abu Dhabi-Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen. Der Dialog mit Muslimen oder Mitgliedern anderer Religionen sei ein "Lernen über sich selbst" und eine "Einübung in den Dialog mit anderen Menschen um des Friedens willen in einer gemeinsamen Welt", erklärte Müller. Jeder sei aufgerufen, die je eigenen Möglichkeiten zu suchen, um zu einem solchen Dialog beizutragen.
Ruhe als knappes Gut
Eröffnet wurde der Missionstag von Militärbischof Werner Freistetter. Orden würden einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag leisten, indem sie "Ruhe und Begegnung mit Jesus" vorlebten um daraus Kraft zu schöpfen, sagte der Referatsbischof für Mission. Ruhe sei in der Gesellschaft ein immer knapperes Gut. Doch sei Stille notwendig, um sich mit den tieferen Dimensionen des Lebens auseinanderzusetzen und grundlegende Fragen zu stellen. "Man kann nicht nachdenken, wenn man getrieben, gehetzt, belastet, verunsichert und bedroht ist", betonte Freistetter.
Quelle: kathpress