Sterbehilfe: Soziologin warnt vor Folgen für Gesellschaft
Wenn aktive Sterbehilfe und assistierter Suizid legal werden, wird dies langfristig eine Entsolidarisierung mit alten und pflegebedürftigen Menschen mit sich bringen. Diese Befürchtung äußerte die Soziologin und Historikerin Brigitte Kepplinger, Obfrau des Vereins Schloss Hartheim, am Wochenende im Interview mit den "Salzburger Nachrichten". Dass sich die Befürworter von Sterbehilfe auf Menschenrechte, Menschenwürde und das Recht auf Selbstbestimmung beziehen, bewertete Kepplinger sehr kritisch:
Dieser zugespitzte Individualismus negiert, dass wir soziale Wesen sind. Niemand ist eine Insel. Unser Menschsein realisiert sich im sozialen Miteinander. Die Forderung auf Selbstbestimmung wird erhoben, ohne Rücksicht auf andere.
Kepplinger weiter wörtlich: "Was macht das mit dem anderen, der die Beihilfe zum Sterben leistet? Auch wenn diese Beihilfe legal ist, lässt das den anderen nicht unbeeinflusst zurück. Was macht es mit Ärzten? Es ist schließlich ein großer Widerspruch zur ärztlichen Verpflichtung, Leben zu retten und Suizid zu verhindern." Sie sei sehr skeptisch, so die Soziologin, "ob wir das als Gesellschaft aushalten, ob der soziale Zusammenhalt nicht zu sehr infrage gestellt wird. Wie sehr erodiert damit die Solidarität, der Generationenvertrag?" Sie befürchte langfristig gesehen eine zunehmende Entsolidarisierung mit den Alten, aber auch mit Menschen, die prinzipiell nicht arbeitsfähig sind.
Wenn Kranke sagen, dass sie ab einem bestimmten Stadium, in dem sie rundum betreut werden müssten, dies als entwürdigend empfinden und anderen nicht zur Last fallen wollen, dann sei das letztlich auch ein Urteil über Menschen, die ein Leben lang in einer solchen Situation sind und Pflege und Betreuung benötigen. Nach dieser Einschätzung wären auch sie in einer entwürdigenden Lage, gab Kepplinger zu bedenken: "Wenn man die Menschenwürde an Fähigkeiten knüpft, begibt man sich auf sehr dünnes Eis. Da sind wir sehr nahe beim Punkt 'unwertes Leben'."
Und: "Wenn wir uns nur als Belastung für andere empfinden, vertrauen wir dem sozialen Zusammenhalt nicht mehr. Wenn ich nicht will, dass jemand anderer für mich auf etwas verzichtet, ist das im Grunde der Ausdruck einer tiefen Unsicherheit. Dann will ich nicht mehr nur der Familie nicht zur Last fallen, sondern auch nicht der Allgemeinheit. Ich kann ja nichts mehr leisten, ich bin ja nur eine Last, also ist es besser, wenn es mich nicht mehr gibt." - Eine solche Einstellung hänge damit zusammen, wie die gesellschaftliche Bewertung von Alter, Krankheit und Behinderung ist. In diesem Kontext sei assistierter Suizid ein einfaches Angebot für komplexe Probleme.
Grenzen werden verschoben
Wenn Sterbehilfe legal möglich ist, würden Grenzen ausgereizt und verschoben. In den Niederlanden etwa werde eine Grauzone betreten, "wenn es um Patienten geht, die nicht einwilligungsfähig sind. Oder wenn man Personen, die einen Sterbewunsch äußern, in ein Sterbezentrum überweist." Einen Sterbewunsch in einer schwierigen gesundheitlichen oder sozialen Situation zu äußern könne nicht gleichgesetzt werden mit dem tatsächlichen Wunsch, sterben zu wollen.
Zudem gab die Soziologin zu bedenken. Der Großteil der Kosten für medizinische Betreuung falle in den letzten Lebensjahren eines Menschen an. Diese Bewertung fließe dann auch in Ausnahmesituationen wie derzeit ein. Kepplinger: "In Belgien war es während der ersten Coronawelle so, dass Coronakranke ab einem bestimmten Lebensalter nicht mehr im Spital aufgenommen wurden. Ähnliches ist auch aus Schweden bekannt. Das halte ich für sehr besorgniserregend."
Kultur des Sterbens fehlt
Es wäre leichter, mit diesen Fragen gut umzugehen, wenn es eine Kultur des Sterbens gäbe - und nicht eine Verdrängung des Sterbens, so Kepplinger weiter: "Es braucht eine Kultur des Loslassens, damit wir lernen, dass es eine Zeit des Reifens und eine Zeit des Loslassens gibt." Aber es fehlten Rituale und ein offener Umgang mit dem Tod, seit die gesellschaftlich prägenden Kräfte der Religion nachlassen. Der Neoliberalismus als Geisteshaltung dominiere und damit das Prinzip der absoluten Selbstbestimmung. "Es muss hier jedoch bedacht werden, dass es damit keine gesellschaftlich bindenden Werte mehr geben kann, und auch keine 'Anleitung' mehr, wie man das Sterben möglichst würdig bewältigt", warnte die Soziologin:
Am Ende steht nur noch die Auseinandersetzung des Individuums mit dem eigenen Tod. Und hier gibt es kein Geländer, an dem man sich anhalten kann.
Gedenkstätte Schloss Hartheim
Der Verein Schloss Hartheim, dem Kepplinger vorsteht, wurde 1995 gegründet. Ziel des Vereins war und ist es, in Schloss Hartheim eine würdige Gedenkstätte für die Opfer der NS-Euthanasie zu errichten und zu bewahren und das ganze Schloss zu einem Ort der Reflexion und des Lernens zu machen. In Hartheim wurden zwischen 1940 und 1944 rund 30.000 Menschen mit Behinderungen von den Nationalsozialisten ermordet.
Zur Frage, ob es in Österreich aufgrund der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit eine besondere Verantwortung gebe, mit dem Thema Sterbehilfe sehr vorsichtig umzugehen, meinte Kepplinger: "Ich denke doch. Die Massentötungen hier in Schloss Hartheim waren eine Brachialaktion der Nationalsozialisten. Es sollte das 'unwerte Leben' mit einem Schlag vernichtet werden. Dann, und jetzt wird es interessant, wollte man ein Gesetz für Sterbehilfe schaffen. Es hat interne Diskussionen darüber gegeben, um dieses Gesetz nach dem gewonnenen Krieg zu veröffentlichen, vor allem die Tötung auf Verlangen wäre die erste Stufe gewesen und dann die Beseitigung von Menschen, die den Wunsch nicht geäußert hatten, aber in deren Fall ein Gremium von Fachleuten entscheiden sollte, dass ihr Leben nicht lebenswert ist. Das wäre eine Legalisierung der Sterbehilfe durch die Nazis gewesen."
Quelle: kathpress