Experte: "Würdiges Lebensende auch ohne assistierten Suizid möglich"
"Ein würdiges Lebensende ist auch ohne assistierten Suizid möglich." Das betont der Präsident der Österreichischen Palliativgesellschaft (OPG), Rudolf Likar, in einem Interview in der aktuellen Ausgabe des "Standard". Die Menschen wüssten viel zu wenig, wie gut Palliativmedizin helfen kann, so der Palliativmediziner, der sich klar gegen aktive Sterbehilfe und assistierten Suizid ausspricht.
Leider werde immer wieder das Bild vermittelt, dass ein würdiges und autonomes Lebensende nur mit assistiertem Suizid möglich sei. Diese Vorstellung sei aber nicht richtig, so Likar. Aus palliativmedizinischer Sicht biete die aktuelle Rechtslage in Österreich bereits jetzt einen geeigneten Rahmen. Man habe viele Möglichkeiten, die bisher allerdings nicht ausgeschöpft würden - etwa Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht. "Damit können alte, schwer kranke und sterbende Menschen sowie ihre Angehörigen unterstützt sowie auf mögliche Szenarien am Lebensende vorbereitet werden", so der Arzt wörtlich. Und sie könnten ihre Wünsche und Vorstellungen äußern, um Leiden zu lindern und ein Sterben in Würde zu ermöglichen. Doch viele Menschen würden diese Möglichkeiten nicht nützen. Nur vier Prozent der Österreicher hätten eine Patientenverfügung.
Likar ist Inhaber des Lehrstuhls für Palliativmedizin an der Sigmund-Freud-Privatuniversität in Wien und Vorstand der Abteilungen für Anästhesie und Intensivmedizin in Klagenfurt und Wolfsberg. In der täglichen Praxis erfahre man auch immer wieder, "dass die Menschen trotz schwerer Erkrankungen sehr gerne leben", betonte der Arzt: "Viele Vorstellungen, die gesunde Menschen von schweren Erkrankungen haben, treffen auf kranke Menschen nicht zu."
Unter anderem werde als Argument für die Notwendigkeit des assistierten Suizids oft die Furcht vor unkontrollierbaren Schmerzen angeführt. Dafür stünden aber zahlreiche medikamentöse und nichtmedikamentöse Möglichkeiten zur Verfügung. Likar: "Auch andere belastende Symptome wie Atemnot, Angstzustände oder Unruhe können wir lindern. Letztlich ist auch die palliative Sedierungstherapie eine Option, das ist die ethisch begründete Möglichkeit, eine medikamentöse Beruhigung bis hin zu einem Dämmer- oder Tiefschlaf einzuleiten."
"Patientenwille ist das höchste Gut"
Der Patientenwille sei das höchste Gut. Es würden jeweils an die Situation angepasste individuelle Behandlungskonzept entwickelt. Gemeinsam könne etwa entschieden werden, dass sich das Therapieziel von einer kurativen zu einer palliativen Versorgung ändert. Dann gehe es nicht mehr um Heilung, sondern darum, Schmerzen zu lindern. "Ist das passiert, darf die Medizin keine lebensverlängernden Maßnahmen mehr ergreifen", erläuterte der Arzt: "Hier ist es wichtig, dass Patienten zu den Ärzten ein Vertrauen aufbauen und verstehen, dass wir nicht bis zum Umfallen therapieren. Wenn ein Patient nie ein Pflegefall werden wollte, werden wir die Therapien bis an diesen Punkt auch nicht fortführen."
Am wichtigsten sei, "dass die Menschen nicht alleine gelassen werden", denn: "Wenn Menschen in dieser Phase nicht begleitet werden, werden sie schnell sagen, dass das Leben nicht mehr lebenswert ist. Wenn man ihnen zuhört, sie auch mit ihren Gedanken nicht alleine lässt, können viele die Zeit, die ihnen noch bleibt, als schön erleben", so Likar: "Viele Tumorpatienten haben letzte Wünsche, etwa noch einmal Abendessen zu gehen oder einen Ausflug auf die Alm zu machen. Wir versuchen das zu erfüllen."
Palliativversorgung auch im Lockdown
Dramatisch sei hingegen die Situation während des ersten Corona-Lockdowns gewesen, wo es passierte, dass Menschen sich von Sterbenden nicht mehr verabschieden durften. Seiner Meinung nach sei das das Schlimmste und dürfe nicht wieder passieren. Auch seien Palliativteams teilweise nicht mehr in Alten- und Pflegeheime gelassen worden. Mittlerweile sei die Situation aber anders. Trotz der kritischen Corona-Inzidenz könne die Versorgung stattfinden, auf den Palliativstationen sei Besuch erlaubt; alles natürlich unter den vorgesehenen Hygienemaßnahmen.
Der OPG-Präsident sprach sich für ein individuelles Recht auf Palliativversorgung und einen flächendeckenden Ausbau in allen Bundesländern und auf allen Versorgungsstufen aus. "Dass Menschen hier kompetent und wirksam begleitet und betreut werden, darf nicht vom Wohnort abhängen, das muss in gleicher Weise in ganz Österreich verfügbar sein." Ebenso brauche es eine Stärkung der Aus- und Fortbildung in Palliative Care für alle Gesundheitsberufe.
"Wer definiert, was lebenswert ist?"
Ab Montag berät der Verfassungsgerichtshof (VfGH) erneut darüber, ob das Verbot der Sterbehilfe in Österreich weiter bestehen soll. Bereits im September wurde eine mehrstündige öffentliche Verhandlung dazu abgehalten. Befragt wurden sowohl Befürworter als auch Gegner einer Liberalisierung. Ziel der insgesamt vier Antragsteller (darunter zwei Schwerkranke), vertreten durch den Wiener Anwalt Wolfram Proksch und unterstützt vom Schweizer Sterbehilfeverein "Dignitas", ist es, die Strafgesetzbuch-Paragrafen 77 ("Tötung auf Verlangen)" und 78 ("Mitwirkung am Selbstmord") zu kippen und somit den assistierten Suizid in Österreich zu ermöglichen.
Prof. Likar warnte im "Standard"-Interview eindringlich vor einer Änderung der aktuellen Rechtslage in Österreich. Sollte sich diese ändern, stelle sich die Frage: "Wer definiert, was lebenswert ist?" Likar: "Die Menschen in Österreich werden immer älter, dementer, multimorbider." Man dürfe nicht an einen Punkt kommen, "an dem die Menschen anfangen müssen, sich zu verteidigen, warum sie immer noch leben". Hier dürfe das soziale Gefüge nicht kippen, warnte der Palliativmediziner. Die Stärke einer Gesellschaft zeige sich darin, "wie gut sich um Randgruppen gekümmert wird und ob ihnen Platz gemacht wird. Dazu zählen auch ältere und sterbende Menschen, die man an ihrem Lebensende in Würde begleitet."
Quelle: kathpress