
Zulehner: Begriff "politischer Islam" diskreditiert doppelt
Kritik an dem derzeit in der Politik viel benützten Begriff "politischer Islam" hat der Wiener Theologe und Religionssoziologe Paul Zulehner geübt. Wenn nach den Terroranschlägen vom Allerseelentag nun vermehrt von einem "Kampf" dagegen die Rede ist, werde damit sowohl ein "doppelter Schaden" angerichtet: "Denn der Begriff 'politischer Islam' schädigt nicht nur in subtiler Weise den Ruf des Islam, sondern beschädigt zugleich den ohnedies im Bewusstsein vieler Menschen ramponierten Begriff der Politik", gab Zulehner in einem aktuellen Blog-Eintrag zu bedenken. "Gutes wird die Politik nicht bekämpfen." Die Unterstellung laute also, dass es letztlich doch der Islam ist, der nicht nur für Gewalt missbraucht wird, sondern in seinen Grundlagen gewaltproduktiv ist.
Diese Sichtweise finde besonderen Anklang bei Anhängern von FPÖ und ÖVP, verwies der Theologe auf Ergebnisse der heuer unter dem Titel "Wandlung" vorgelegten Langzeitstudie über "Religion im Leben der Österreicher*innen 1970-2020". Der Aussage "Der Islam ist eine gewalttätige Religion, die die Entwicklung von radikalen Gruppierungen und Terroristen begünstigt" stimmen demnach mehr als zwei Drittel der FPÖ-Sympathisanten und 61 Prozent der ÖVP-Sympathisanten zu. Die Zustimmungsquoten der Anhänger aller anderen Parlamentsparteien liegen hier bei unter einem Drittel, bei denen der Grünen - derzeit ÖVP-Koalitionspartner - gar bei nur 20 Prozent.
Dem entspricht laut der Studie auch die Zustimmung zur konträren Aussage: "Der Islam ist Weltreligion wie das Christentum und Judentum, bei der das friedliche Zusammenleben aller Menschen im Vordergrund steht." Grüne (79 Prozent), SPÖ (70) und Neos (69 Prozent) stimmen dem signifikant höher zu als ÖVP (52) oder gar FPÖ (27 Prozent).
Dieser Fremdeinschätzung stellt Zulehner die repräsentative Eigeneinschätzung der österreichischen Muslime gegenüber. 97 Prozent sehen ihre Religion als friedliebend, 7 Prozent als (potenziell) als gewalttätig.
"Politisch" im positiven Sinn wirken
Eine weitere Frage lautete: "Für welche der folgenden Bereiche sollen sich die christlichen Kirchen / soll sich die islamische Glaubensgemeinschaft Ihrer Meinung nach verstärkt einsetzen?" Bei den Antwortmöglichkeiten "für den Frieden in der Welt", "für die Zukunft der gesamten Menschheit", "gegen Ausländerfeindlichkeit" und sogar "gegen die Benachteiligung der Frauen" liegen Muslime ähnlich oder sogar höher als die nach Katholiken, Protestanten und Orthodoxe unterteilten christlichen Gläubigen.
Solche Ziele machen den Islam "im besten Sinn dieses Wortes zu einem 'politischen Islam'", befand Zulehner. Auch dem Christentum seien gesellschaftsgestaltende Anliegen - zurecht - zu eigen, erinnerte der Religionssoziologe an Papst Franziskus und seine neue Enzyklika "Fratelli tutti": "Religiöse Amtsträger sollten zwar keine Parteipolitik betreiben, aber sie dürfen deswegen nicht einfach die politische Dimension des Lebens ausgrenzen, welche den Blick für das Gemeinwohl und die Sorge für eine ganzheitliche Entwicklung des Menschen beinhaltet."
Dialog sinnvoller als Kampfansage
Dass die Ansichten der islamischen und der nichtislamischen Bevölkerungsanteile in Bezug auf Gewaltbereitschaft "krass auseinanderklaffen", hat nach den Worten Zulehners fatale Folgen für das Miteinander. "Muslime leben bei uns mit dem ständigen Gefühl, etwas zu sein, was sie von sich aus gar nicht sein wollen: nämlich gewalttätig statt friedliebend." Hier wäre ein Dialog, der Brücken baut, sinnvoller als eine Kampfansage, appellierte Zulehner.
Je nach politischer Brille falle das Urteil über den Islam völlig anders aus. "Auch der Begriff 'politischer Islam' erzählt mehr von dem, was jemand sehen möchte, als was tatsächlich ist", wies der Wiener Theologe hin. "Ein Faktencheck würde den politisch Verantwortlichen guttun und die Menschen islamischen Glaubens vor einer letztlich islamistischen Diskreditierung und Kränkung bewahren." Und: Statt einer "Beobachtungsstelle für den Politischen Islam" wäre nach Ansicht Zulehners eine "Selbstbeobachtungsstelle für die Islam-Politik" hilfreich.
Er warnte davor, den Angehörigen der zweitgrößten Religionsgemeinschaft in Österreich unentwegt zu sagen: "Mag ja sein, dass ihr euch selbst für friedfertig anseht. Aber wir sehen das anders." Ein Kurswechsel der Politik könnte die islamische Gemeinschaft ermutigen, gegen den Missbrauch Allahs durch gewaltbreite Krieger in den eigenen Reihen entschlossen anzugehen, und wäre der Integration einer großen Zahl von Österreichern islamischen Glaubens dienlich, schloss Zulehner.
(Link: https://zulehner.wordpress.com/2020/11/11/der-kampf-gegen-den-politischen-islam)
Quelle: kathpress