Polak: Schreckenserbe der Novemberpogrome wirkt bis heute nach
Eine "erschreckende Amnesie" in Bezug auf die öffentliche Auseinandersetzung mit den sozialen, ökonomischen und politischen Ursachen der Shoah und der ihr vorausgehenden Novemberpogrome des Jahres 1938 hat die Wiener Theologin Regina Polak beklagt. In Corona-Zeiten stünden Juden heute weltweit erneut im Zentrum von Verschwörungstheorien. "Wen wundert es dann, dass in einer Zeit, wo in Europa die Einhaltung der Menschenrechte gegenüber geflüchteten Menschen erodiert, Migrantinnen und Migranten Teilhaberechte verweigert und Arme statt Armut bekämpft werden, auch der Antisemitismus wieder aufflackert?", fragte Polak. Wachsender Antisemitismus sei "seit jeher immer auch ein Brandmelder, dass das Humanum als solches bedroht ist".
Die Professorin am Institut für Praktische Theologie der Uni Wien äußerte sich im Rahmen der Bedenktag-Reihe "Mechaye Hametim - Der die Toten auferweckt", die alljährlich an die Schreckensnacht vom 9. auf den 10. November 1938 erinnert. Damals wurden im ganzen Deutschen Reich und damit auch in Österreich Synagogen in Brand gesteckt, jüdische Geschäfte und Wohnungen verwüstet und Juden erniedrigt oder attackiert. Die Corona-Pandemie verhindert heuer den sonst in der Ruprechtskirche in Wien gefeierten ökumenischen Gedenkgottesdienst. Die Predigt dafür ist aber als Video auf der Seite des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit (www.christenundjuden.org) anzuhören oder als Text auf https://theocare.wordpress.com abrufbar.
Schuld reicht bis in die vierte Generation
Regina Polak geht bei ihren Überlegungen von einer scheinbar anstößigen Stelle im alttestamentlichen Exodus-Buch aus, in der es von Gott heißt: "Bei denen, die mir feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation." Dieser Satz solle nicht als Strafandrohung gelesen werden, sondern als Beschreibung eines empirischen Sachverhalts, riet die Theologin. Die Forschung zu den Auswirkungen der Shoah belege, dass sich die Taten der Kriegsgeneration auf die Kinder, Enkel und Urenkel der Opfer auswirken. Viele würden bis heute mit dem Schmerz und der Trauer über ihre zerstörten Familien leben und psychisch sowie physisch unter dieser Last leiden.
Vergleichbares gebe er auch bei den Kindern und Kindeskindern der Kriegsgeneration selbst, verwies Polak auf psychohistorische Forschungen. Hier gehe es vor allem um familiär nicht bearbeitete Schuld und Mitschuld an den Verbrechen der NS-Zeit, die sich bis heute auswirken. "Ob aktiver Täter, ob Opportunistin oder Trittbrettfahrerin, ob Mitläufer oder Zuseher: alles, was Menschen getan und nicht zuletzt auch unterlassen haben, hat negative Auswirkungen in den Familien, wenn es beschwiegen, verdrängt und nicht in die eigene Verantwortung übernommen wird", warnte die Theologin, die selbst in Israel forschte. Die Folgen seien diffuse Angst- und Schuldgefühle bei den Nachkommen, die sich in Ressentiment, Aggression, Hass und Täter- und Opferumkehrung verwandeln können.
Gerade gegenwärtig seien alarmierende Entwicklungen feststellbar, so Polak: Laut einem OSZE-Bericht häuften sich vor allem in den sozialen Medien "Wahnvorstellungen, die Juden beschuldigen, das Covid-19-Virus zu verbreiten - ja sogar in die Welt gesetzt zu haben, um mit der Entwicklung eines Impfstoffes Geld verdienen zu können". Antisemitische Verbalattacken, physische Übergriffe und sogar Hassverbrechen nähmen ebenfalls zu - auch in Österreich.
Gegen Unmenschlichkeit Flagge zeigen
Vor diesem Hintergrund komme dem Gedenken an die Novemberpogrome besondere Bedeutung zu, betonte Polak. "Es verpflichtet uns dazu, die aktuellen gesellschaftlichen Dynamiken in den Blick zu nehmen, die die Abwehr und den Hass gegen Juden und Jüdinnen sowie andere vulnerable Minoritäten befördern." Es müsse verhindert werden, "dass unsere Gegenwart zu einer Vorgeschichte für weitere Verbrechen wird", appellierte die Theologin.
Praktisch verpflichte dies zu aktiver Solidarität mit der jüdischen Bevölkerung und Widerstand gegen alle Formen des Antisemitismus. Jede und jeder Einzelne ist aufgefordert, sich unermüdlich und öffentlich zu äußern, in Leserbriefen, auf der Straße, unter Freunden, in der Familie, in den sozialen Medien. "So können wir verhindern, dass die aktuellen Entwicklungen zu Probeläufen werden, wie weit man die Grenzen des Hasses gegen Menschen ausweiten kann."
Quelle: kathpress