Sozialethiker: Bei "Virus" denkt Papst nicht zuerst an Covid-19
Überraschend am neuen Lehrschreiben "Fratelli tutti" von Papst Franziskus ist, dass es keine "Corona-Enzyklika" ist, als die sie im Vorfeld gehandelt wurde. Das hat der Innsbrucker Sozialethiker Wolfgang Palaver in seiner Analyse des am Sonntag veröffentlichten Textes angemerkt. Der Papst spreche darin Probleme an, "die vor Corona, neben Corona und nach Corona vor uns stehen". Das Wort "Virus" stehe in der Enzyklika vor allem für überzogenen Individualismus und Rassismus. "Das Dokument ist gegen nationalistisch-rassistische Abschottung geschrieben und gegen einen individualistisch-egoistischen Konsumismus, der sich für die, denen es schlecht geht, nicht interessiert. Das sind die beiden Viren, die Papst Franziskus im Visier hat", hielt Palaver fest.
Im Interview der Kooperationsredaktion österreichischer Kirchenzeitungen wies der Theologe auf zwei weitere Kernbotschaften des Papstschreibens hin: das Plädoyer für Einheit in Vielfalt sowie für Vergebung. Für ersteres habe Franziskus das Bild des Polyeders gewählt: "Es symbolisiert die Welt nicht als Kugel mit einheitlicher Oberfläche, sondern mit einer Oberfläche aus vielen verschiedenen Flächen", erklärte Palaver. Das wiederum verdeutliche die Überzeugung des Papstes, dass heute eine universale Haltung nötig sei, die mit dem Lokalen in Verbindung steht. Deshalb statt der Kugel als Bild für gleichmachende Integration das vielflächige Polyeder. Der Papst stelle sich eine Welt vor, "wo lokale Traditionen, Kulturen, Sprachen, Religionen eine Einheit in Verschiedenheit leben", er vertrete einen "Glokalismus" - die Verbindung von global und lokal.
"... wie John Lennons 'Imagine'"
Ein weiteres zentrales Thema in "Fratelli tutti" ist laut Palaver, "wie wichtig Vergebung ist, ohne zu vergessen". Die Shoa, Hiroshima oder den Sklavenhandel einfach wegzuschieben und zu bagatellisieren, sei "falsch, weil es das Leiden der Opfer auslöschen würde". Die Wahrheit des Unrechts und des Leids müsse auf den Tisch, aber nicht als Anfeuerung von Rache und Vergeltung, sondern als Voraussetzung für Versöhnung. "Bis hin zu dem radikalen Gedanken, dass lebenslange Haftstrafen nichts anderes sind als eine versteckte Todesstrafe", so der Sozialethiker und Präsident von Pax Christi Österreich.
Dem Menschenbild des Papstes entspreche der Appell, "wir müssen doch versuchen, Menschen, die schwer schuldig geworden sind, zu heilen". In dieser Hinsicht erinnere Franziskus an John Lennons "Imagine" von 1971, meinte Palaver. So wie in der Enzyklika sehr oft das Wort "Traum" stehe, habe der Ex-Beatle gesungen: "You may say I'm a dreamer, but I'm not the only one" (dt.: "Du sagst vielleicht, ich sei ein Träumer. Aber ich bin nicht der einzige"). Dass der Traum von einer universalen Geschwisterlichkeit schwierig umzusetzen sei, wisse der Papst. Dazu seien tägliche Anstrengung und Hingabe erforderlich, sagte Palaver. "Zu Lennons Zeiten dachte man noch, es gehe automatisch."
Quelle: kathpress