Zulehner: Papst benennt "unverblümt die Schatten der Weltlage"
In seiner neuen Enzyklika benennt Papst Franziskus "unverblümt die Schatten der Weltlage" und bietet der Weltgemeinschaft für einen neuen "Weg der Hoffnung" und der Solidarität die Begleitung der Religionen an: Das erklärt der Wiener Pastoraltheologe Paul Zulehner in einer ersten Analyse zum am Sonntag erschienenen Rundschreiben des Papstes. Die Enzyklika enthalte zahlreiche sozial- und friedensethische Gedanken und auch eine Berufsethik für Politiker. "Fratelli tutti" als Zitat des Heiligen Franziskus übersetze der Papst schon im Untertitel mit dem Hinweis auf die nötige "Geschwisterlichkeit" und "Soziale Freundschaft". "Sie sind, davon ist der Papst überzeugt, die besten Heilmittel für eine verwundete Welt", so Zulehner in einer Stellungnahme gegenüber der Nachrichtenagentur Kathpress.
"Wie ein einfühlsamer Weltbeichtspiegel" lese sich das erste Kapitel der Enzyklika, hält Zulehner in seiner Analyse fest, die im vollen Wortlaut auch auf dem privaten Blog des Theologen abrufbar ist:
Die dunklen Seiten der Weltlage werden ins Licht gebracht: die bedrohte Einigung Europas und Lateinamerikas, abgeschlossene Formen des Nationalismus, Egoismus und Verlust des Sozialempfindens, die Vereinsamung so vieler bei gleichzeitigem Zusammenwachsen der Welt, die Nachteile einer gesichtslosen Digitalisierung die zu teils unzulässigen Einträgen in den sozialen Medien führt, die Wegwerfkultur und neue Formen der Sklaverei.
Aus Sicht des Pastoraltheologen "überraschend wenig" findet sich im Papstschreiben hingegen zu den Wunden der Natur. Allerdings habe Franziskus darüber bereits in seiner 2015 veröffentlichten Enzyklika "Laudato si" ausführlich geschrieben.
Die Corona-Pandemie habe manche der dunklen Seiten der Weltlage "wie in einem Brennglas sichtbar gemacht". Trotz des von ihm vorgelegten "Weltbeichtspiegels" sei der Papst "jedoch kein professioneller Schwarzseher", so Zulehner. "Das 'moderne Sündenregister' beschießt er mit der Einladung, diese düsteren Seiten der Weltlage wahrzunehmen und daraufhin einen Weg der Hoffnung einzuschlagen."
Menschenwürde und "universelle Liebe"
Auf "höchst politische Weise" meditiere der Papst in der Enzyklika die vertraute biblische Erzählung vom Barmherzigen Samariter. Kernbotschaft des Schreibens sei das Stichwort von der "universellen Liebe" - gelebt von Menschen in einer "offenen Gesellschaft", die für die Heilung der Wunden der Menschen, Völker und Nationen sorgen.
So erinnere Franziskus daran, dass alle Religionen an den "einen Vater aller" glauben und "gleich sind an unantastbarer Würde und verbrieften Grundrechten". Diese tiefe Einheit der Menschheit bedeute für den Papst konkret: "Es gibt weder die 'anderen' noch 'die dort', sondern es gibt nur 'wir'", fasst Zulehner zusammen. Die Bedeutung dieser gemeinsamen Verantwortung beschreibe Franziskus "in provokanter Konkretheit: Solidarität heißt, gegen die strukturellen Gründe für Armut, Ungleichheit, Mangel an Arbeit, Land und Wohnraum, und der Aberkennung der sozialen Rechte und der Arbeitnehmerrechte zu kämpfen."
"Fundierte sozial- wie friedensethische Analyse"
Auch seine Sorge um Schutz suchende Menschen verdeutlicht Franziskus in seiner Enzyklika erneut. "Er kämpft dafür, dass alle Menschen Lebensverhältnisse vorfinden, aus denen sie nicht fliehen müssen. Aber solange dies der Menschheitsfamilie bei allen gewürdigten Bemühungen nicht hinreichend gelingt, gilt es, die Flüchtenden 'aufzunehmen, zu schützen, zu fördern, zu integrieren'", zitiert Zulehner aus dem Papstschreiben. Franziskus werde dabei konkret und fordere etwa Humanitäre Korridore oder leichteren Zugang zu Visa. Zulehner:
Dem Papst ist also wichtig, nicht nur an die schöne Wahrheit der Einheit aller Menschen zu appellieren, sondern dass diese der Horizont für ganz konkretes Handeln ist. Dann wird es zum Widerspruch, die Einheit hymnisch zu besingen und keine Kinder aus Moria aufzunehmen.
Lob von Zulehner gibt es auch für die "theologisch gut fundierte sozial- wie friedensethische Analyse" im siebten Kapitel der Enzyklika. Darin zeigt sich der Papst mit der Katholischen Soziallehre davon überzeugt, dass nur Gerechtigkeit für alle zum nationalen wie zum Weltfrieden führen könne und erneuert seine Appelle gegen Atomwaffen, die Todesstrafe, aber auch einen vermeintlich "gerechten Krieg".
Gewissensspiegel für Politiker
Breiten Raum widme Franziskus auch einer "Berufsethik für Politikerinnen und Politiker", verweist Zulehner auf das fünfte Kapitel des päpstlichen Rundschreibens; es sei "wie ein Gewissensspiegel für Politiker". Diese seien "berufen, sich der Gebrechlichkeit der Völker und der Menschen anzunehmen" und Politik "immer Arbeit für alle". Fehle Politikerinnen und Politikern diese "staatsmännische" Weite, gehe die Würde verloren - und zwar sowohl die Würde derer, die ihnen anvertraut sind als auch die eigene. "Für eine heilsame Politik ist zudem ein wichtiger Aspekt: Sie darf sich nicht der Wirtschaft unterwerfen und diese wiederum nicht dem Diktat der Effizienz. Beide sind gemeinwohlpflichtig", fasst Zulehner die Papstworte zusammen.
Ausdrücklich wende sich Franziskus mit seinem Schreiben nicht nur an die katholische Kirche, sondern an alle Menschen guten Willens, betont Zulehner abschließend: "Ob den Papst in dieser sensiblen Stunde der Menschheitsgeschichte genug Menschen hören werden, die für die wegweisenden Entscheidungen Verantwortung tragen? Oder werden viele das Schreiben loben und dann weitermachen mit der 'kranken Normalität'?" (Link zum Blogeintrag: https://zulehner.wordpress.com)
Quelle: kathpress