Wolf: "Unterdrückte Traditionen der Kirche" sind Reformanstöße
In seinem neuen Buch über Papst Pius IX. (1846-1878) zeigt der deutsche Kirchenhistoriker Hubert Wolf auf, dass sich mit dem Ersten Vatikanischen Konzil 1869/70 ein starrer Traditionalismus in der Kirche etablierte, der den davor lebendigen Traditionsstrom zurechtbog. Über dieses bis heute nachwirkende Erbe müsse "ohne Scheuklappen diskutiert" werden, regte Wolf im Interview der Linzer "KirchenZeitung" an. "Lasst uns doch die unterdrückten Traditionen der Kirche heben - wir wären überrascht, wie viele alternative Modelle es gab", wies der renommierte Historiker hin: Das böte seiner Überzeugung auch "Identifikationsmöglichkeiten für Menschen, die aus Frust der Kirche den Rücken kehren".
Wolf nannte als Beispiele für mögliche Reformanstöße: "Wir hatten und haben immer noch ganz selbstverständlich verheiratete Priester in der Kirche. Wir hatten Äbtissinnen, die ohne Weihe Diözesen geleitet haben. Wir müssen über den Diakonat der Frau reden ..." Reformen würden "nicht gegen die Tradition, sondern nur mit ihr" funktionieren, jedenfalls aber ohne sie zum Traditionalismus verengen, betonte Wolf. Der Traditionsstrom sei lebendig. "Alles Starre, Unbewegliche widerstrebt dem Wesen der Kirche und dem Geist, der sie führt."
In dem ausführlichen Interview von "KirchenZeitung"-Chefredakteur Heinz Niederleitner blickte Hubert Wolf auf den Entstehungskontext und die Beschlüsse des Ersten Vatikanums vor 150 Jahren zurück. Der anfangs liberale Papst Pius IX. habe nach der für ihn traumatischen Erfahrung, 1848 aus Rom fliehen zu müssen, nur mehr auf Hardliner aus den Reihen der Ultramontanen gehört, die die Kirche "zu einem auf den Papst konzentrierten Kampfverband" machen wollten. "Der Preis war hoch: Kirche und Moderne wurden für inkompatibel erklärt."
Plötzlich war vieles "unkatholisch"
Anders als vom Konzil von Trient (1545-1563) gemeint, das gegen die Protestanten neben der Bibel auch die Tradition als maßgeblich für den Glauben erklärte, behauptete Pius IX. nach den Worten Wolfs, er sei die Tradition. Die mit einer "Neuerfindung des Katholizismus" einhergehende Dogmatisierung der Unfehlbarkeit des Papstes sei gegen überzeugende Gegenargumente aus der Kirchentradition durchgesetzt worden - diese seien "niedergebügelt, zum Teil auch in der Konzilsaula niedergeschrien" worden, wie der Münsteraner Kirchenhistoriker erläuterte. In der Folge sei auch die Theologie als neuscholastische neu erfunden worden, andere Ansätze "für unkatholisch erklärt".
Mit Auswirkungen bis in die Gegenwart, wie Wolf darlegte: Im ordentlichen Lehramt existiere heute eine "Form der Unfehlbarkeit, die erst das Zweite Vatikanischen Konzil definiert hat"; so habe etwa Johannes Paul II. als Sprecher aller Bischöfe die Unmöglichkeit der Frauenpriesterweihe erklärt. Angesichts dieser Nachwirkungen sei das 19. Jahrhundert in der katholischen Kirche "vielleicht noch gar nicht zu Ende", meinte der Historiker. Das Zweite Vatikanum habe ja die Unfehlbarkeit und den Jurisdiktionsprimat des Papstes bestätigt.
Die Linzer "KirchenZeitung" empfiehlt Hubert Wolfs "Der Unfehlbare. Pius IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert" als Buchtipp. Es sei mehr als eine Biografie von Giovanni Maria Mastai Ferretti, dem späteren Pius IX. mit dem längsten Pontifikat der Kirchengeschichte: Moderne Möglichkeiten der Mobilität - etwa die Reise mit dem Zug nach Rom - und der Publizistik in Form von massenhaft verbreiteten Piusfotos hätten dazu beitragen, die charismatische Amtsführung des Papstes zu stärken und die kirchliche Abwendung von der modernen Welt zu unterstützen. Der C.H.Beck-Verlag bewirbt das Buch als "eine kalte Dusche für alle, die im Papst den Repräsentanten uralter Traditionen sehen" (https://www.chbeck.de/wolf-unfehlbare/product/30934883).
Quelle: kathpress