Schönborn: "Habe noch genug Hoffnungsreserven"
"Ich glaube, die Überraschungen Gottes werden nicht ausbleiben." Und: "Ich habe genug Hoffnungsreserven, um auf Überraschungen zu vertrauen." Das hat Kardinal Christoph Schönborn in einem Beitrag in der aktuellen Ausgabe der Wiener Kirchenzeitung "Der Sonntag" betont, die den inhaltlichen Schwerpunkt auf das 25-Jahr-Jubiläum Schönborns als Erzbischof von Wien legt. Schönborn hat sein Amt am 14. September 1995 angetreten.
Der Wiener Erzbischof blickte im "Sonntag" zurück auf seine Jahre als Priester und Bischof, er benennt zugleich aber auch die großen kirchlichen Herausforderungen für die Zukunft. Jene Persönlichkeit, die ihn als Priester, Professor und dann als junger Bischof am meisten prägte, sei Papst Johannes Paul II. gewesen. Der Wojtyla-Papst habe die "Kraft des Glaubens" in einzigartiger Weise repräsentiert. Sein Pontifikat sei nicht nur vom Zusammenbruch des Kommunismus geprägt gewesen, sondern auch vom Aufbruch der Jugend, so Schönborn. Der Kardinal verwies in diesem Zusammenhang auf das Phänomen der Weltjugendtage:
Man kann gar nicht überschätzen, was sie kurz- und mittelfristig, wohl auch langfristig bedeutet haben. Auch da hat sich diese Kraft gezeigt.
Schönborn erinnerte an die Enzyklika "Centesimus Annus" von Johannes Paul II. aus dem Jahr 1991: "Für mich war diese dritte Sozialenzyklika Johannes Pauls II. seine prophetischste." Diese Prophetie sei das große Thema, das jetzt auch das Pontifikat von Papst Franziskus präge. Der Papst aus Polen habe damals gesagt, die Welt stehe nach dem Zusammenbruch des Kommunismus vor einer Entscheidung. Sie könne entweder den Weg des schrankenlosen Kapitalismus oder die soziale Marktwirtschaft wählen, das heißt eine freie Marktwirtschaft "mit sozialer Verantwortung, die mit dem Kapital und mit dem wirtschaftlichen Erfolg verbunden ist".
Der Weg sei leider nicht in die von Johannes Paul II. erhoffte Richtung gegangen, bedauerte der Kardinal. Die sozialen Verpflichtungen seien vernachlässigt worden, und dazu gehörten auch die ökologischen Verpflichtungen, die mit dem Wohlstand verbunden sind. Schon Papst Benedikt habe begonnen, nachdrücklich auf die ökologische Frage hinzuweisen, die eine entscheidende Zukunftsfrage der Menschheit sei. Und Papst Franziskus habe diese Frage ganz deutlich in den Mittelpunkt gerückt.
Individualisierung in Kirche und Gesellschaft
Schönborn nahm in dem "Sonntag"-Beitrag auch zur Entwicklung Stellung, dass immer mehr Menschen auf Distanz zur Institution Kirche gehen. Manche beklagten, so Schönborn, dass die Kirche marginal geworden sei. Er sehe das nicht so: "Ich glaube, in vieler Hinsicht ist die Kirche heute gerade durch den Papst eine Stimme, die weltweit gehört wird." Doch im Raum der säkularen Gesellschaft gebe es vor allem zwei Phänomene, die die gegenwärtige kirchliche Situation prägen würden: Das eine sei die besagte Distanz Institutionen gegenüber, speziell auch den religiösen. Schönborn:
Es gibt eine starke Individualisierung, aus dem Gefühl, dass wir Institutionen gar nicht brauchen - weil sie selbstverständlich geworden sind und weil sie funktionieren, zumindest in unseren Breiten. So gibt es einen massiven Auszug aus den institutionellen Kirchen.
Das zweite weltweite Phänomen sei die Individualisierung des Christentums in der Form der evangelikalen Strömungen. Man schätzt, dass heute neben den 1,2 Milliarden Katholiken die Freikirchen mit geschätzten 400 Millionen die zweitgrößte Gruppe der Christenheit sind. Er stelle sich die Frage, die offensichtlich auch für Papst Franziskus sehr präsent sei: "Was heißt das für die größte der Großkirchen, für die katholische Kirche?" Papst Franziskus suche das Gespräch, den Kontakt, auch die Glaubensgemeinschaft mit diesen fluiden Formen von Kirchlichkeit. Und auch schon Papst Benedikt XVI. habe dazu die Frage gestellt: "Geht es letztlich nicht darum, dass wir aufeinander hören und voneinander lernen, was es heute heißt, Christ zu sein?"
Schönborn erinnert zudem an ein Wort, das Helmut Schüller 1995 als Generalvikar der Erzdiözese Wien gesagt hatte: "Wir sollten vielleicht weniger über und mehr mit Gott reden." Das sei, so Schönborn, "die große Anfrage, die auch die säkulare Gesellschaft an die Kirche stellt: Was bewegt euch? Spürt man etwas vom Spirituellen bei euch? Ist das Evangelium, ist Jesus Christus eine lebendige Wirklichkeit bei euch?" Schon Paulus habe gesagt: "Wenn man in eure Versammlung kommt, müssen die Menschen sagen: Bei euch ist Gott!" Für Schönborn stellt sich die Frage:
Kann man das bei uns sagen, in unseren Gottesdiensten? Ja, man kann es. Aber es dürfte ausdrücklicher sein.
Nüchterner Blick auf Reformen
Manche im säkularisierten Europa glaubten, dass radikale institutionelle Reformen entscheidend für die Zukunft der Kirche sind - etwa in Bezug auf die Frauenfrage oder die Sexuallehre. Er sehe das nüchtern, so Schönborn, "im Blick auf die schwindende Bedeutung Europas: Wir sind noch acht Prozent der Weltbevölkerung und werden 2050, sagt man, nur mehr vier Prozent sein." Diese Fragen hätten freilich trotzdem ihren Platz: "Ich denke, vor allem die Frauenfrage ist sehr dringend und drängend. Aber in welcher Form? Ist das einzige Großthema, das ansteht, die Frage 'Frau und Amt' - oder ist es zuerst eine Frage der christlichen Kultur des Miteinander? Eine Anfrage, die sich der Kirche der ganzen Welt stellt, und die nur gemeinsam beantwortet werden kann."
Eine weitere Frage, die den Kardinal sehr bewege: "Die Überraschungen, die Gott der Menschheit bereitet mit der Coronakrise! Es hat noch nie eine Pandemie gegeben, die wirklich die gesamte Welt in ihrem Griff hält. Was bedeutet das für die Christenheit, für die Kirche in der Zukunft?"
Quelle: kathpress