Bioethikerin: Gesetz in Frankreich "Rückschritt für Kindeswohl"
Als "höchst fragwürdig" und als "Rückschritt für das Kindeswohl" hat die Wiener Ethikerin Susanne Kummer das neue französische Bioethikgesetz bezeichnet, das die Nationalversammlung in Paris am Freitag in zweiter und damit abschließender Lesung verabschiedet hat. Schattenseiten der Reproduktionsmedizin sowie gesundheitliche Risiken für Frauen und Kinder würden bei der neuen Regelung "völlig unter den Tisch gekehrt", kritisierte die Geschäftsführerin des kirchlichen Bioethik-Instituts IMABE am Montag in einer Kathpress vorliegenden Stellungnahme die Regelung.
Das neue Gesetz gesteht allen Frauen in Frankreich unter 43 Jahren das Recht auf eine künstliche Befruchtung als Kassenleistung zu, darunter auch Single-Frauen und lesbischen Paaren. Bisher war die künstliche Befruchtung als ultima ratio nur für heterosexuelle Paare zugänglich, unter Vorbehalt medizinisch nachgewiesener Unfruchtbarkeit. Die bisherige Anonymität von Samenspendern soll aufgehoben werden: Ab 18 Jahre sollen Kinder das Recht darauf haben zu wissen, wer ihr genetischer Vater ist.
Ebenso soll ab nun auch Social Egg Freezing sowie eine Eizell- und Samenspende bei ein und demselben Kinderwunschpaar erlaubt sein. Damit sind Verfahren möglich, in denen das Kind bis zu vier Elternteile hat - zwei genetische und zwei soziale Eltern. Das Verfahren ähnelt der Leihmutterschaft, in der das Kind ebenfalls nicht genetisch mit der austragenden Mutter verwandt ist, mit dem Unterschied, dass die Leihmutter zugleich Wunschmutter ist. Noch bleibt Leihmutterschaft verboten, das Tor zu einer Legalisierung ist aber damit geöffnet.
Als weitere Änderung soll im Bereich der Embryonenforschung, die in Frankreich erlaubt ist, in Zukunft auch die Herstellung von Mensch-Tier-Chimären möglich sein sowie die umstrittenen Eingriffe an der embryonalen Keimbahn mittels CRISPR/Cas9.
Aufwachsen im Niemandsland
Als Berichterstatter für die Gesetzesvorlage hatte der pensionierte Arzt Jean-Louis Touraine fungiert. Der ehemalige Sozialist und nunmehrige Abgeordnete der Regierungspartei LRM tritt auch für aktive Sterbehilfe ein und betonte, als die Abgeordneten im vergangenen Herbst über das Gesetz erstmals abstimmten: "Ein Kind hat kein Recht auf einen Vater"; es gebe ein Recht darauf, alleinstehend Mutter zu werden.
Aussagen, die die Wiener Ethikexpertin Kummer als "zynisch" bewertet. "Natürlich braucht jedes Kind optimalerweise Vater und Mutter, das sagt auch die UN-Kinderrechtskonvention." Eindeutig bedeute die neue französische Gesetzeslage einen Rückschritt für das Wohl des Kindes. "Wenn Kinder aus fremden Ei- und Samenzellen entstehen, bürdet man ihnen einiges auf. Sie wachsen in einem familiären Niemandsland auf. Man tut so, als ob der Leib nur Rohstoffmaterial wäre. Dabei ist die Frage, von wem wir abstammen, Teil unserer Identität."
Kummer verwies hier auf die Selbsthilfeorganisationen für Fremdsamenspender-Kinder oder Anonyme-Samenspender-Kinder. Tausende betroffene Kinder weltweit hätten sich inzwischen zu diesen zusammengeschlossen und kämpften für ihre Grundrechte.
Abwehr- wurde zu Anspruchsrecht
"Das Kindeswohl muss vor dem Kinderwunsch Vorrang haben", unterstrich Kummer. Zwar bedeute das Leiden an einem unerfüllten Kinderwunsch für viele Paare sehr wohl eine existenzielle Krise, doch lasse sich aus dem "legitimen Wunsch nach einem Kind" kein individuelles "Recht auf ein Kind" ableiten, betonte die IMABE-Geschäftsführerin.
Hier wurde ein Umwertung vorgenommen: Aus dem Abwehrrecht - niemand darf mich hindern, Kinder zu bekommen - hat man ein Anspruchsrecht gemacht. Das ist höchst fragwürdig.
Missachtet würden vom neuen Bioethik-Gesetz jedoch auch gesundheitliche Aspekte. Kummer: "Wir wissen heute aus Studien, dass Frauen bei einer Schwangerschaft mit Eizellspende ein bis zu fünffach höheres Risiko für schwerwiegende gesundheitliche Komplikationen haben als Frauen nach spontaner Schwangerschaft." Darüber hinaus spiele das Gesetz dem Markt in die Hände, der unrealistische Hoffnungen bei Frauen wecke: "95 Prozent der Frauen mit 43 Jahren gehen trotz mehrfacher IVF-Versuche definitiv ohne Kind nach Hause. Das sind große seelische Belastungen und hohe finanzielle Ausgaben aus Public-Health-Perspektive", mahnte die Expertin.
"Schlag gegen Demokratie"
Die Regierung von Präsident Emmanuel Macron, der mit der IVF-Öffnung ein Wahlversprechen umgesetzt hat, rechtfertigt die neuen Maßnahmen mit einer zunehmenden Pluralität der Familienmodelle. Die Nationalversammlung hatte über rund 2.700 Abänderungsanträge zu entscheiden, die seit Herbst 2019 zum Entwurf eines neuen Bioethik-Gesetzes eingegangen waren.
15 Abgeordnete hatten zuvor einen von der Regierung ohne Grund vorgegebenen enormen Zeitdruck beklagt. In so wichtigen Fragen, in denen es um die Existenz von Menschen in hochsensiblen ethischen Fragen ginge, sei dies ein "Affront gegen das Parlament" und ein Schlag gegen die Demokratie, hieß es in ihrem offenen Brief. Bevor das Gesetz in Kraft treten kann, wird es noch in zweiter Lesung im Senat im Herbst oder Anfang 2021 behandelt.
Scharfe Kirchenkritik Vehement gegen das Vorhaben hatte sich zuvor auch Frankreichs katholische Kirche gestellt. Der Bioethik-Beauftragte der Französischen Bischofskonferenz, Erzbischof Pierre d'Ornellas, erklärte in einer ersten Reaktion am Wochenende, mit dem Gesetz wollten die Abgeordneten "den Vater vollständig aus dem Akt der Empfängnis streichen". Parlamentarier dürften sich jedoch "nicht in die Intimität der Familie einmischen und Gesetze über die Liebe erlassen". Ihre Aufgabe sei, Gesetze "auf Grundlage der Achtung der Menschenwürde und den daraus resultierenden ethischen Werten zu beschließen, darunter den Schutz der Schwächsten".
Der Erzbischof führte aus, die Abgeordneten suchten erklärtermaßen ein "Gleichgewicht". Es sei aber fraglich, ob man von einem Gleichgewicht sprechen könne, wenn das Gesetz Kindern "effektiv verbietet, einen Vater zu haben, und in der Praxis zu unfairer Diskriminierung zwischen ihnen führt", befand er.
Quelle: kathpress