Gedenken an Karpatendeutschen-Vertreibung mit versöhnendem Segen
75 Jahre nach der gewaltsamen Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung der Slowakei sind Schritte der Versöhnung wie auch energisches Engagement für Flüchtlinge weiterhin nötig: Das hat am Freitagnachmittag eine Gedenkveranstaltung der überlebenden Mitglieder der Gemeinde Bruck an der Donau (heute Most pri Bratislave) an der slowakisch-österreichischen Grenze zwischen Kittsee und Petrzalka (Engerau) deutlich gemacht. Der emeritierte Linzer Diözesanbischof Ludwig Schwarz, der damals als Fünfjähriger mit seiner Familie Bruck verlassen musste, segnete dabei ein Kreuz als "Weg der Versöhnung" und eine aus der ehemaligen Heimat gebrachte Linde als symbolhaften "Baum des Lebens".
Von rund 150.000 Deutschen, die vor dem Zweiten Weltkrieg in der Slowakei lebten, wurden nach dessen Ende rund 120.000 aufgrund der "Benesch-Dekrete" vertrieben, 10.000 weitere kamen im Krieg, auf der Flucht oder in Lagern um, jeweils 5.000 wurden vermisst oder verblieben in der Slowakei. Dies umschreibt auch das Schicksal des auf der Schüttinsel gelegenen vormals deutschen Ortes Bruck: Anfang Juli 1945 wurden die rund 2.000 Bewohner gewaltsam zusammengetrieben und zu einem Fußmarsch nach Preßburg/Bratislava gezwungen. In ihrem Dorf wurden Slowaken angesiedelt.
In der slowakischen Hauptstadt angekommen, wurden die Vertriebenen drei Wochen lang in einer aufgelassenen, desolaten Patronenfabrik eingesperrt, dann am 23. Juli 1945 bis an ein Feld vor der österreichischen Grenze bei Kittsee getrieben, wo sie übernachteten, bis am Folgetag die russischen Besatzer den Übertritt nach Österreich gewährten. Viele fanden später in den Grenzorten oder in Wien eine neue Heimat, andere in Deutschland oder in Übersee. Die Überlebenden und ihre Nachkommen pflegen bis heute eine jährliche Zusammenkunft, das vom Salesianerpater Alois Saghy (85) organisierte sogenannte "Bruckertreffen".
Kein Vergessen, aber Vergeben
Erinnert wurde bei der nunmehrigen Gedenkveranstaltung an der Grenze einerseits an die traumatischen Momente der Vertreibung und die katastrophalen Bedingungen im Preßburger Flüchtlingslager, die auch im jüngst von P. Saghy herausgegeben Buch "Aufgewacht in der Patronfabrik am 4. Juli 1945" dokumentiert sind. Im Lager habe es nicht einmal die notwendigste Versorgung gegeben, weshalb in diesen Wochen viele Kinder und ältere Menschen "wie die Fliegen" an der Ruhr gestorben seien, berichtete 75 Jahre später Karl Putz, Obmann der Karpatendeutschen Landsmannschaft. Die ursprüngliche Hoffnung der Menschen auf eine Rückkehr in ihre Heimat sei mit der Ausweisung aus der Slowakei endgültig gestorben. Zugleich sei der Grenzort Kittsee "der erste Ort in Freiheit" gewesen; als Flüchtlinge seien die Brucker nicht überall freundlich aufgenommen worden, hätten sich jedoch mit viel eigenem Einsatz in der neuen Heimat integriert und an deren Aufbau nach dem Krieg mitgewirkt.
Angesichts der "aussterbenden" Zeitzeugen gelte es heute mehr denn je, den "rohen, absurden, kriminellen Akt" der Vertreibungen von 1945 in Erinnerung zu rufen, betonte die deutschstämmige Slowakin Rosina Stolar-Hoffmann (95), die nach dem Krieg in Bratislava blieb und dort später die deutsche Gemeinde koordinierte. Durch ein Verbot, auf der Straße Deutsch zu sprechen, sei ihr damals "die Muttersprache aus dem Mund genommen" worden. In der "Zeit der Rechtlosigkeit" sei "nur die Hoffnung auf Gnade der Bevölkerung und auf die Hilfe Gottes" geblieben. Familien seien über Jahrzehnte getrennt, Beziehungen unterbrochen, Briefe zensuriert und weiter wirkende Traumata ausgelöst worden, legte auch die Historikerin Michaela Pucher-Schwarz aus ihren Forschungsergebnissen dar.
Heute seien die Beziehungen zwischen der deutschsprachigen und slowakischen Bevölkerung gut, berichtete Stolar-Hoffmann: "Man kann sich wieder die Hände reichen, und den meisten gelang es, die Erlebnisse von damals zu verzeihen." Vergessen könne man die Geschehnisse von 1945 jedoch nicht, weshalb das Bekenntnis zum gemeinsamen Versöhnungsweg ständig erneuert werden müsse. Nötig sei auch die Wachsamkeit gegenüber der Hilfsbedürftigkeit heutiger Vertriebener: "Wer von sich behauptet, ein guter Christ zu sein, hat die Pflicht, zu vergeben, aber auch Verständnis für heutige Flüchtlinge zu zeigen und ihnen entgegenzukommen. Auch bei ihnen handelt es sich um Menschen in Not", forderte die Zeitzeugin.
Gruß der Kardinals-Mutter
Der Mitorganisator der Gedenkveranstaltung, Gymnasialdirektor Walter Roth, konnte trotz Corona-Vorsichtmaßnahmen rund 160 Teilnehmer begrüßen, darunter aus der Politik u.a. Christoph Zarits, Vertriebenen-Sprecher der ÖVP im Nationalrat sowie die burgenländischen Landtagsabgeordneten Gerhard Bachmann (SP) und Gerald Handig (VP). Der Kittseer Bürgermeister Johannes Hornek überbrachte eine persönliche Grußbotschaft von Bundespräsident Alexander van der Bellen. Auch der künftige Provinzial der Salesianer Don Boscos, P. Siegfried Kettner, die Bürgermeister von Kittsee und der umliegenden Gemeinden sowie Vertreter slowakischer und ungarischer Gruppen beteiligten sich.
Eine besondere Grußbotschaft erreichte die Teilnehmer von Eleonore Schönborn, der Mutter des Wiener Erzbischofs Christoph Schönborn: Sie erinnere sich noch an alle Ereignisse ihrer eigenen Flucht, erklärte die 100-Jährige handschriftlich, die 1945 mit ihren noch kleinen Kindern - darunter auch dem heutigen Kardinal - aus dem tschechischen Skalsko (Skalken) ebenfalls infolge der Benesch-Dekrete vertrieben wurde, in ihren Dankesworten für den Erhalt des Brucker Erinnerungsbuches. Besonders der Tod ihrer Mutter in einem Flüchtlingslager sei ihr bis heute stets vor Augen, so Eleonore Schönborn.
Glaube stärker als Hass und Trauer
Das Vergeben als einzige Option hob beim abschließenden Dankgottesdienst in der Pfarrkirche Kittsee auch der emeritierte Wiener Domdekan Karl Rühringer hervor. Angesichts der Erlebnisse von Gewalt und Willkür könnten Menschen einander eine "endlose Liste" von Verbrechen vorwerfen oder ihretwegen auf Gerechtigkeit pochen, so der Geistliche, der selbst in seiner Kindheit aus Südmähren vertrieben wurde, in seiner Predigt. Dieser christliche Glaube habe die Vertriebenen stark gemacht und ein Überwinden der Trauer ermöglicht.
Als deutlichstes Beispiel dafür verwies Rühringer auf die Charta, welche Vertreter aller deutschsprachigen Heimatvertriebenen am 5. August 1950 - "als viele Wunden noch bluteten und nicht vernarbt waren" - in Stuttgart unterzeichneten. Ein "heiliger und ernster Verzicht auf Rache und Vergebung" sei hier ebenso festgeschrieben worden wie der Wille, ein geeintes Europa und den Wiederaufbau des Kontinents mit allen Kräften zu unterstützen. Diese Charta, welche der damalige deutsche Bundespräsident Theodor Heuss als "Dokument des Mutes, der Weisheit und Tapferkeit" gewürdigt hatte, rufe bis heute alle Heimatvertriebenen dazu auf, "sich deren Inhalt mit dem Herzen zu eigen zu machen".
Auf ein weiteres Versöhnungsdokument war bereits zuvor verwiesen worden: Am 21. März 2003 hatten sich die Bischöfe Österreichs und Tschechiens in der gemeinsamen Erklärung "Versöhnte Nachbarschaft im Herzen Europas" zum Weg des Erinnerns, der Versöhnung und des Aufbaus grenzüberschreitenden Vertrauens bekannt, da dies die "Voraussetzung für Frieden" sei. Das Versöhnungswerk müsse jedoch nicht bei Null beginnen, sondern könne auf zahlreiche Initiativen - unter ihnen auch die "Bruckertreffen" - aufbauen, stellten die Bischöfe damals fest.
Wie bereits seine Vorredner rief auch Rühringer alle Heimatvertriebenen zu besonderer Aufmerksamkeit für heute Flüchtende auf: "Wer, wenn nicht wir, soll ihnen gegenüber Verständnis und Einfühlungsvermögen zeigen?" Die Fürbitten des Gottesdienstes unterstrichen dies: Es wurde dabei für ein Ende der ablehnenden gesellschaftlichen und politischen Haltung gegenüber Flüchtlingen und die Umwandlung in Aufnahmebereitschaft gebetet. Insbesondere wurde auch an die weltweit wegen ihres Glaubens verfolgten Menschen erinnert.
Quelle: kathpress