Theologe Jäggle: Corona-Pandemie lässt Religionen einander näherrücken
Durch die Covid-19-Pandemie könnte ein "neues Zeitalter des interreligiösen Dialogs" anbrechen. Zumindest liegt diese Hoffnung nahe, liest man die "Spurensuche" nach entsprechenden Brückenschläge und Initiativen aus aller Welt, deren Ergebnis der katholische Theologe Martin Jäggle im Blog "theocare.network" jetzt veröffentlicht hat. Der frühere Professor für Religionspädagogik an der Uni Wien und Präsident des Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit wies auf bemerkenswerte Gesten interreligiöser Verbundenheit in Österreich, Deutschland, Israel und im Internet hin - und er schloss sich der Einschätzung des Generalsekretärs der Europäischen Rabbinerkonferenz (CER), Gady Gronich, an, der gemeinsame Gebete, Online-Botschaften oder Erfahrungsaustausch Aktivitäten nannte, "die es wohl vor Corona so nicht gegeben hätte".
Einige Beispiele, die Jäggle in dem vom Wiener Institut für Praktische Theologie seit Beginn der Pandemie betriebenen Blog beschrieb: Auf Einladung des Bürgermeisters von Jerusalem, Masche Leon, kamen Ende März 2020 erstmals Vertreter verschiedener Religionen im Jerusalemer Rathaus zu Gebeten um ein baldiges Ende der Corona-Pandemie zusammen, "weil wir ein gemeinsames Problem haben". Denn "ob Juden, Christen, Muslime: Wir rufen Gott um Hilfe an", so der Bürgermeister. Neben Muslimen-, Drusen-, Kirchen- und Bahaivertretern sprachen auch der sephardische und der aschkenasische Oberrabbiner Jerusalems, Schlomo Amar und Arieh Stern, Gebete in ihrer jeweiligen Tradition. Von christlicher Seite nahmen der griechisch-orthodoxe Patriarch Theophilos III., Patriarchatsleiter Erzbischof Pierbattista Pizzaballa und Franziskanerkustos Francesco Patton teil.
Schlomo Amar betonte dabei, Jerusalem sei "der rechte Ort" für derartige Gebete. "König Salomon, der wenige Meter von hier den Tempel errichtet hat, hat Gott gebeten, alle zu erhören, die hierher zum Gebet kommen, ob Juden oder Nichtjuden."
In Österreich gab es laut Jäggle erstmals ein Grußwort zu Ostern bzw. Pessach 2020, das die beiden Vizepräsidenten des Koordinierungsausschusses, Margit Leuthold (evangelisch) und Willy Weisz (jüdisch) erstmals gemeinsam schrieben. Als die Wiederaufnahme der öffentlichen Gottesdienste durch unzureichende Räumlichkeiten einiger Kirchen in Österreich behindert wurde, boten größere Kirchengemeinden des Ökumenischen Rates an, "in großen Gottesdiensträumen anderer Mitgliedskirchen liturgische Feiern abzuhalten".
In der Erzdiözese Berlin und der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz weitete sich diese "ökumenische Gastfreundschaft" auch auf andere Religionsgemeinschaften aus, die Kirchen oder Räume der Gastgeber mitnutzen durften.
Papst: "Weltweite Brüderlichkeit vertiefen"
Religionsdialog-Experte Jäggle erwähnte auch an den von Papst Franziskus angeregten interreligiösen Gebetstag am 14. Mai, der allen Betroffenen der Pandemie - gleich welcher Religion - galt. Dieser Gebetsappell des "Hohen Ausschusses für die menschliche Geschwisterlichkeit" war Frucht der Zusammenarbeit zwischen dem Heiligen Stuhl und Vertretern der höchsten sunnitischen Lehrautorität, der Kairoer Al-Azhar-Universität, so Jäggle.
Solidarität und Verbundenheit der Menschheit in der Pandemie war auch die Schlüsselbotschaft führender Imame, Rabbiner, Swamis und Bischöfe, darunter auch Kardinal Christoph Schönborn im Onlineprojekt "Coronaspection", das während der Pandemiezeit Botschaften der Hoffnung verbreitete und von Papst Franziskus mit den Worten bedankt wurde: "Mein Bestreben ist es, dass diese Worte Gutes bewirken und dass sie den Menschen helfen, das Gefühl der weltweiten Brüderlichkeit zu vertiefen, das die gegenwärtige Krise erfordert."
Alle Religionen erlebten Beschränkung
Hintergrund all dieser und weiterer Initiativen bildeten laut dem Wiener Theologen die massiven Einschränkungen des sozialen und auch religiösen Lebens zur Eindämmung des Covid-19-Virus mit oftmals noch nie dagewesenen Auswirkungen auf Glaubensgemeinschaften, ihre Zusammenkünfte, Gebete und Gottesdienste. So sei das jüdische Purim-Fest ebenso "auf Sparflamme" gelaufen wie das Holi-Fest der Hindus; harte Beschränkungen trafen das jüdische Pessachfest und das christliche Osterfest sowie den ganzen islamischen Fastenmonat Ramadan. Die physische Präsenz Gläubiger am Schabbat in der Synagoge, am Sonntag in der Kirche und am Freitag in der Moschee war lange Zeit unmöglich.
Es wäre verständlich, wenn die jeweilige Religionsgemeinschaft ihre ganze Aufmerksamkeit angesichts der widrigen Umstände auf deren Bewältigung innerhalb der eigenen Gemeinschaft richten würde, befand Jäggle. Aber das war nicht der Fall: "Vielfältige, teils sogar recht innovative Praktiken" seien ins Leben gerufen worden, mit "Blick über die eigene Gemeinschaft hinaus auf die gegenwärtige Situation der Menschheit".
(Der Beitrag im Wortlaut: https://theocare.wordpress.com/2020/06/22/verandert-die-covid-19-pandemie-das-verhaltnis-der-religionen-zueinander-eine-spurensuche-martin-jaggle)
Quelle: kathpress