Ökumenisches Mauthausen-Gedenken für "Menschlichkeit ohne Grenzen"
"Berauben wir uns der Erinnerung an die Opfer, berauben wir uns des Fundaments, das unsere demokratische Gesellschaft im Innersten zusammenhält." Das hat der evangelische Bischof Michael Chalupka am Sonntag bei einem Gedenkgottesdienst im ehemaligen NS-Konzentrationslager Mauthausen betont. Die ökumenische Feier, der Chalupka gemeinsam mit dem Linzer Bischof Manfred Scheuer und dem orthodoxen Erzpriester Alexander Lapin vorstand, bildete den Auftakt zur traditionellen Gedenkveranstaltung aus Anlass des Jahrestags der Befreiung des ehemaligen KZ, die diesmal wegen der Corona-Pandemie nur in virtueller Form stattfand. Ihr Motto: "Menschlichkeit ohne Grenzen".
Nur durch das Gedenken an die beispiellosen Verbrechen des NS-Terrorregimes könne Entwicklungen widerstanden werden, die den Wert eines Lebens über den Wert anderer Leben stellen, sagte Bischof Chalupka in seiner Predigt in der Kapelle der Gedenkstätte. Antisemitismus und Rassismus seien als "akzeptierte Haltung im Meinungsspektrum" in der Mitte der Gesellschaft wirkmächtig geworden. Und in der Mitte der Gesellschaft gelte es achtsam zu sein, "wenn die Abwertung anderer aufgrund ihrer Herkunft oder Religion wieder salonfähig wird, wenn ein Wir konstruiert wird, das seine Identität aus der Abwertung anderer bezieht, wenn zwischen der Rettung des Lebens der Eigenen und der Rettung des Lebens anderer unterschieden wird", warnte Chalupka.
"Opfer dürfen nicht namenlos bleiben"
Bei Gott seien alle Namen aufgeschrieben, von denen der lutherische Bischof viele ausdrücklich nannte: die Namen derer, die nach dem Wortgottesdienst bei der virtuellen Befreiungsfeier sprachen ebenso wie die Namen evangelischer Geistlicher, die in Mauthausen ermordet wurden. Das Erinnern an das Versagen auch der Kirchen im Widerstand gegen den NS-Terror und das Gedenken der Opfer sei in zweifacher Weise notwendig, betonte Chalupka: "Die Täter dürfen nicht das letzte Wort haben, und die Opfer dürfen nicht namenlos bleiben."
Die Verbrechen des Nationalsozialismus konfrontierten in radikaler Weise mit der Erfahrung einer Gottverlassenheit, die im von Jesus am Kreuz gebeteten 22. Psalm zum Ausdruck kommt: "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" In diesem Psalm heiße es aber auch: Gott hört den Schrei der Opfer.
Der evangelische Bischof erwähnte in seiner Predigt ein von seinem Vorgänger Michael Bünker initiiertes Forschungsprojekt, bei dem den Lebensgeschichten der in Mauthausen ermordeten Geistlichen nachgegangen wird. "Sie alle sollen keine Nummern bleiben, sondern ihre Namen sollen in Erinnerung bleiben, um zu zeigen, dass es auch in der Zeit der Gottesferne möglich war, Gott nahe zu sein und mit ihm an der Seite der Opfer zu stehen", sagte Chalupka.
Scheuer: Menschlichkeit immer verteidigen
Zu Beginn des Gedenkgottesdienstes an einem "Ort der Unmenschlichkeit und Barbarei" sagte Bischof Scheuer in seinen Begrüßungsworten, Menschlichkeit sei verletzlich und müsse immer wieder neu verteidigt werden. Notwendig sei auch ein Gespür für das Leid anderer, damit Geschehnisse wie unter dem NS-Regime nicht eintreten, als Menschen zum "Material" und zur "Nummer" degradiert wurden.
Scheuer hatte sich in den vergangenen Tagen bereits zweimal ausführlich zu den Ereignissen vor 75 Jahren und davor geäußert: Im Hinblick auf das Gedenken in Mauthausen bezeichnete der Bischof diesen Ort als "Mahnmal gegen Entmenschlichung". Einen weiteren Text widmete er dem Ende des Zweiten Weltkriegs bzw. dem Tag der Befreiung am 8. Mai 1945. Beide Texte sind auf der Website der Diözese Linz nachzulesen (www.dioezese-linz.at).
Lapin: "Abartige NS-Ideologie"
In einer zweiten Predigt nach der Lesung aus dem Johannesevangelium wies Erzpriester Lapin auf den Kontrast zwischen dem christlichen Menschenbild als Abbild Gottes und der "abartigen Ideologie" des Nationalsozialismus hin. An die Stelle der Überzeugung, dass jedes Leben ein Geschenk und damit schützenswert ist, hätten sich in dieser Schreckenszeit Vorstellungen von Herren- und Untermenschen politisch durchgesetzt, so Lapin. Der orthodoxe Geistliche erinnerte an die dadurch ausgelöste "schlimmste Katastrophe der Menschheit" mit 70 Millionen Toten. Die Seelen der Märtyrer seien in Mauthausen präsent und würden bis heute auffordern: "Besinnt euch! Wehret den Anfängen!"
Der Gottesdienst endete mit einem von Chalupka, Scheuer und Lapin gesprochenen aaronitischen Segen aus der Thora, den Martin Luther als Schlusssegen einer christlichen Messe einführte. Musikalisch umrahmt wurde die Feier vom in Mauthausen geborenen Religionspädagogen und Kirchenmusiker Alfred Hochedlinger. Mitgefeiert konnte online auf der Website des Mauthausen-Komitees (www.mkoe.at) werden, zudem übertrug der oberösterreichische Privat-TV-Sender LT1.
Im Anschluss fand ab 11 Uhr die einstündige Gedenkfeier mit Zeitzeugen-Statements, Videobeiträgen und weiterer Musik statt - zu sehen auf ORF III und ebenfalls unter www.mkoe.at. Neben rund 15 Zeitzeugen kam auch Europaparlaments-Präsident David Sassoli in einem Video-Beitrag an die Jugend Europas zu Wort. Er rief sie auf, derer zu gedenken, "die in diesem Lager ihr Leben verloren haben, die für eine bessere Welt gekämpft haben, die für die Werte von Freiheit und Gerechtigkeit eingetreten sind."
Im Vorfeld er virtuellen Feier legten Vertreter des Mauthausen Komitee Österreich (MKÖ), der Österreichischen Lagergemeinschaft Mauthausen (ÖLM) und des Comité International de Mauthausen (CIM) in der KZ-Gedenkstätte einen Kranz nieder. Für das offizielle Österreich hatte das Bundespräsident Alexander Van der Bellen bereits am Dienstag getan.
Quelle: kathpress