Jean Ziegler zu EU und Asyl: "Verbrechen gegen die Menschlichkeit"
"Die Schande Europas": Unmissverständlich ist der Titel des neuen Buches des Schweizer Soziologen Jean Ziegler über die katastrophale Lage der Geflüchteten auf Lesbos. Und unmissverständlich ist sein Appell: Die Lager müssen geschlossen und die Flüchtlingspolitik der EU muss radikal geändert werden. Im Interview mit der Kooperationsredaktion österreichischer Kirchenzeitungen schildert Ziegler seine Eindrücke über die "fatalen Bedingungen" im Flüchtlingslager Moria und ähnlichen auf Samos, Kos, Leros und Chios. Die EU verantworte dort "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", die "von unseren Steuergeldern finanziert" würden.
Sein Besuch im Vorjahr im Flüchtlingslager auf Lesbos ist Ziegler noch bestens in Erinnerung: "So ein Elend, so eine Verzweiflung wie in Moria habe ich noch nie erlebt, auch nicht während meiner achtjährigen Zeit als UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, in der ich wirklich viel fürchterliches Leid gesehen habe", berichtete er. Auf einem ursprünglich für 3.000 Soldaten errichteten Areal lebten mehr als 20.000 Menschen zusammengepfercht und warteten verzweifelt auf ihren Asylbescheid - "viele schon seit drei oder vier Jahren". Die hygienischen Bedingungen im Lager seien katastrophal, die Nahrung ungenügend und häufig ungenießbar.
Es gebe in Moria nur einen einzigen Militärarzt für alle von einem Stacheldraht umgebenen Menschen, sagte Ziegler. "Und wenn dort jetzt noch das Coronavirus ausbricht, was so gut wie sicher ist, dann gibt es eine menschliche Katastrophe."
Aus Verzweiflung verstümmelte Kinder
Das Erdrückendste, das Ziegler im Lager erlebt habe, waren unbegleitete schutzlose Kindern - oft letzte Überlebende von Bombardements oder von Schiffbrüchen - die aus Verzweiflung Selbstmordversuche und Selbstverstümmelungen begingen. In einem Lazarett von "Ärzte ohne Grenzen" außerhalb des Lagers seien Mediziner und Psychiater mit der Tatsache befasst, dass sich junge Menschen mit einem Messer an Armen und Beinen verletzen - ein "letzter verzweifelter Hilfeschrei", wie Ziegler es nannte.
Die EU betrachte die Flüchtlinge als "Gefahr für Europa" und folge dem Kalkül, die Gegebenheiten in den Lagern auf den griechischen Inseln würden sich unter potenziellen Flüchtlingen herumsprechen. Aber eine solche Abschreckungspolitik sei politisch unwirksam, "denn wenn Menschen bombardiert werden wie jetzt im syrischen Idlib, dann gehen sie weg - wie auch immer die Nachrichten aus den Lagern sind". Für den demnächst 86-jährigen Autor "liquidiert" die EU damit das Asylrecht "und zerstört das moralische Fundament, auf dem sie selbst aufgebaut ist". Menschenrechte wie jenes auf Nahrung, auf Behausung und auf medizinische Versorgung würden mit Füßen getreten.
Ziegler erinnerte an den von der EU ausgehandelten Relokalisierungsplan, der Kontingente für die Flüchtlingsaufnahme in jedem Mitgliedsland festlegt. Die osteuropäischen Staaten wie Polen und Ungarn, die jede Aufnahme von Flüchtlingen ablehnen, sollten keine Subventionen aus Brüssel bekommen, bis sie dem Verteilungsplan zustimmen.
Ziegler nannte es absurd, dass der Stacheldraht um die Lager, die Kriegsschiffe der europäischen Grenz- und Küstenwache Frontex oder auch die griechische Spezialpolizei mit Panzern Ausdruck einer Politik seien, "die von einer großen Mehrheit der Europäer aber abgelehnt wird". Die starken demokratischen EU-Mitgliedstaaten wie Österreich, Deutschland oder Frankreich müssten dagegen aufstehen, nötigenfalls unter dem Druck ihrer Bürger.
Für Verfolgte ist kein Grenzübertritt illegal
Ziegler hielt fest: "Es gibt für verfolgte, gefolterte Flüchtlinge keine illegalen Grenzübertritte. Sie haben das Recht, eine Grenze zu überschreiten und in einem anderen Staat ein Asylgesuch zu deponieren. Ob der Staat das dann ablehnt oder annimmt, ist wieder eine andere Problematik." Zu verhindern, dass jemand ein Gesuch einreicht, wie das Frontex und die griechische Polizei tun, "wenn sie mit Eisenstangen auf Flüchtlingsboote einschlagen oder auf Flüchtlinge schießen", ist für Ziegler "ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit".
Für den nötigen "Aufstand des Gewissens" hat der Soziologe auch große Erwartungen an die Kirchen. Der von ihm "sehr geschätzte" Papst Franziskus habe nach seinem Besuch 2016 auf Lesbos gesagt, was er dort sah, erinnere ihn an Zustände in Konzentrationslagern. Diese klaren Worte dürften laut Ziegler nicht vergessen werden. "Es geht darum, ein Alarmsignal zu setzen und zu sagen, die Flüchtlinge sind Menschen wie du und ich, sie sind unsere Brüder und Schwestern. Was uns von ihnen trennt ist nur der Zufall des Geburtsortes."
Jean Zieglers Buch "Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten" erschien 2020 im Bertelsmann Verlag, umfasst 143 Seiten und kostet 15,50 Euro.
Quelle: kathpress