Chalupka: "Wir brauchen körperliche Distanz und Nähe der Seelen"
"Wir brauchen körperliche Distanz und Nähe der Seelen": Diesen Spruch, den er am Morgen auf Twitter gesehen hatte, stellte der evangelisch-lutherische Bischof Michael Chalupka an den Beginn der Andacht, mit der die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich (ÖRKÖ) am Donnerstag in Wien eröffnet wurde. Chalupka nahm auf die neue Erfahrung der Verletzlichkeit im Zusammenhang mit der Coronavirus-Krise Bezug. Normalerweise werde so gelebt, als ob der Mensch unverletzbar wäre. Dieses Gefühl sei jetzt abgesackt, an seine Stelle sei ein "permanentes Bedrohungsgefühl" getreten. In den Lebensabläufen habe sich ein rasanter Wandel eingestellt, die Verletzlichkeit des gesellschaftlichen Zusammenlebens werde ebenso bewusst wie die Auswirkungen auf die globalisierte Wirtschaft.
Die Erfahrung der Verletzlichkeit vermittelten aber auch die Bilder von den Flüchtlingslagern auf ägäischen Inseln oder an anderen Punkten der EU-Außengrenze, so der Bischof weiter. Hier bestehe der Eindruck, dass Verletzlichkeit auch bewusst inszeniert werden kann, um von der Flucht nach Europa abzuschrecken. Angesichts der "betonierten Positionen" in der Diskussion über Migration müsse aber gerade jetzt über die Sinnhaftigkeit von Grenzen, über eine gemeinsame Haltung der EU gesprochen werden.
Sowohl in der Auseinandersetzung mit der Coronavirus-Krise als auch in der Bewältigung der Situation der Flüchtlinge gehe es darum, vor allem die "Gefährdeten und Schwachen" zu schützen, betonte Chalupka. Die durch die vielen Veranstaltungsabsagen "geschenkte" Zeit sollten gerade Christen nützen, um sich in der Vorbereitung auf Ostern, in der Passionszeit, bewusst zu machen, dass Gott nicht als "Hero" in die menschliche Geschichte eingegriffen hat, sondern als "verletzlicher Mensch".
Physische und mentale Grenzen auf der Probe
Bischof Chalupka zitierte abschließend die vor wenigen Tagen veröffentlichte gemeinsame Erklärung der evangelisch-lutherischen und römisch-katholischen leitenden Bischöfe Skandinaviens. In dieser Erklärung wird darauf verwiesen, dass "die physischen und mentalen Grenzen durch die Ausbreitung des neuen Coronavirus und die Entwicklung der Flüchtlingssituation an den Außengrenzen Europas auf die Probe gestellt werden". Ein gemeinsamer Zug beider Herausforderungen sei, dass sie von jedem und jeder verlangen, "persönliche und gemeinschaftliche Verantwortung" zu übernehmen, "unabhängig von politischen Überzeugungen". Aber es gebe auch Unterschiede. Ein Virus müsse bekämpft werden, das treffe nicht auf Menschen zu, die eine sichere Zuflucht suchen.
Chalupka verwies auf einen zentralen Satz in der Erklärung der skandinavischen Bischöfe: "Menschen auf der Flucht vor unerträglichen Lebensbedingungen können fast alles verlieren, aber niemals ihre Menschenrechte". Die skandinavischen Bischöfe hätten deutlich gemacht, dass sie nicht einfach für eine Öffnung der Grenzen eintreten, aber die europäischen Staaten müssten ihre "gesetzliche, finanzielle und politische Verantwortung" akzeptieren, damit in den von Krieg und Armut heimgesuchten Herkunftsländern der Flüchtlinge entsprechende Lebensbedingungen hergestellt werden können. Die Hauptgefahr für Europa bestehe nicht in den tausenden von Menschen, die an den Grenzen des Kontinents Zuflucht suchen, sondern im Verlust der universalen Werte und der menschlichen Würde und in einer "kurzsichtigen Politik auf allen Seiten".
Die Vollversammlung tagte am Donnerstag erstmals unter der Leitung des neuen Vorsitzenden, Domdekan Prof. Rudolf Prokschi. Die Delegierten der Kirchen setzten sich im Hinblick auf das 75-Jahr-Gedenken des Endes des Zweiten Weltkriegs u.a. mit friedensethischen Fragen auseinander. Das künftige Schwerpunktthema soll die Überwindung der Gewalt gegen Frauen werden, kündigte der ÖRKÖ an.
Dem ÖRKÖ gehören derzeit 16 Kirchen an: "Volle Mitglieder" sind Altkatholische Kirche, Anglikanische Kirche, Armenisch-apostolische Kirche, Bulgarisch-Orthodoxe Kirche, Evangelische Kirche A.B., Evangelische Kirche H.B., Evangelisch-methodistische Kirche, Griechisch-Orthodoxe Kirche, Koptisch-Orthodoxe Kirche, Römisch-Katholische Kirche, Rumänisch-Orthodoxe Kirche, Russisch-Orthodoxe Kirche, Serbisch-Orthodoxe Kirche und Syrisch-Orthodoxe Kirche. Die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche und der Bund der Baptistengemeinden sind "Mitglieder mit beratender Stimme". Eine Reihe weiterer Institutionen bzw. Organisationen besitzen Beobachterstatus.
(Infos: www.oekumene.at)
Quelle: kathpress