Theologin: Konflikten in Europa mit Gleichheitsdiskurs begegnen
Angesichts der zu erwartenden erneuten "Zerreißprobe für die europäischen Länder" in Folge der türkischen Grenzöffnung für Flüchtlinge plädiert die Wiener Moraltheologin Sigrid Müller für einen neuen Gleichheitsdiskurs: "Vielleicht ist es an der Zeit, in Europa statt der individuellen Freiheit die Gleichheit der Menschen wieder in den Mittelpunkt zu stellen und die Augen dafür zu öffnen, dass das Gemeinsame fundamentaler ist als das Unterscheidende", heißt es in einer Stellungnahme Müllers gegenüber "Kathpress". Gemeinsam seien etwa die Menschenrechte - eine Teilung dieser Rechte bzw. eine Verwehrung für Flüchtlinge dürfe es nicht geben: "Entweder gibt es Menschenrechte für alle oder für niemanden". Insofern spiegle "die Krise an den Außengrenzen die innereuropäische Krisenlage wider".
Müller äußerte sich aus Anlass der von der Wiener Katholisch-Theologischen Fakultät Ende vergangener Woche ausgerichteten internationalen Fachtagung "Between Fundamentalism and Secularism. The Contribution of a Multi-Cultural and Multi-Religious Europe for Today's Church and World".
Durch einen solchen neuen Gleichheitsdiskurs könne aufgezeigt werden, dass ein demokratisches Europa zwar von der gegenseitigen Achtung von Unterschieden und Alterität lebe, zugleich dies aber auf der Basis einer fundamentalen, "grundsätzlichen Anerkennung der Würde und Rechte aller Menschen" geschehen müsse, so Müller. Dies gelte es umso mehr wieder deutlich zu machen, je stärker in manchen mittel- und osteuropäischen Ländern angesichts der Flüchtlingsbewegungen Ressentiments und Abschottungstendenzen gegenüber Europa wachsen würden.
Religion werde in dieser Situation nicht selten als "Identitätsmarker" und "Gegenfaktor" instrumentalisiert, um tatsächliche "historische Wunden und psychologische Versehrungen" gegen ein als säkular abgelehntes Europa ins Feld zu führen und vermeintlich unverrückbare eigene Werte zu bekräftigen: "Säkularität und Veränderung werden zu Schlagwörtern der Bedrohung aus dem Westen, welche die eigene Identität bedrohen". Das Christentum werde dabei von der Politik "als Chiffre für Sicherheit" und als "emotionale Stütze" betrachtet, um einer verklärten Sehnsucht nach "Heimat" Raum zu geben und dadurch tatsächliche Sorgen um Sicherheit und Wohlstand politisch umzumünzen, so Müller.
Auch im Blick auf diese Vereinnahmung des Religiösen müsse man in einem neuen Gleichheitsdiskurs darauf hinweisen, dass das Projekt Europa als Freiheits- und Friedensprojekt nur gedeihen könne, wenn die Grundrechte der Religions- und Gewissensfreiheit geachtet werde, führte Müller weiter aus. "Fundamentalismus, ob religiös oder säkular, ist letztlich eine Verweigerung von Diskurs und die Nicht-Anerkennung von Positionen, die von den eigenen abweichen."
Quelle: kathpress