Deutsches Suizid-Urteil: Zulehner sieht Politik gefordert
Die Freigabe der assistierten Selbsttötung durch den deutschen Bundesverfassungsgerichtshof bediene eine Teil-Gruppe in einer "weltanschaulich verbunteten Gesellschaft" und lasse zugleich viele im Stich. Dieses Resümee zieht der Wiener Pastoraltheologe Prof. Paul Zulehner in einem auf seinem Blog veröffentlichten Kommentar. In Deutschland sei nun die Politik herausgefordert, "die durchaus möglichen unsolidarischen Kollateralschäden dieser Entscheidung mit klaren Grenzsetzungen und Bedingungen einzudämmen". Skeptischer Nachsatz: "Ob das gelingen wird?"
Jedenfalls sei der Ausbau eine guten Hospizarbeit immer noch die humanere, weil zugleich solidarische Alternative zur allein "liberal" konzipierten Freiheit des Sterbens, zeigt sich Zulehner überzeugt: "Österreich hat diesen Weg vor Jahren eingeschlagen. Es möge dabei bleiben."
Der Theologe verweist auf seine aktuelle "Studie Religion im Leben der Österreicher*innen 2020", wonach die Menschen in höchst verschieden "Wirklichkeiten" leben würden. Für rund 20 Prozent sei "mit dem Tod definitiv alles aus". Ihre "Wirklichkeit" sei rein diesseitig. In einer derart konstruierten "Wirklichkeit" mache es keinen Sinn, Leid zu verstehen oder gar zu bestehen, schon gar nicht das Leid, das sich psychisch und physisch im Prozess des Sterbens einstellen könne. Es liegt dann nahe, die Wissenschaft zu beanspruchen, um diese letzte (möglicherweise) leidvolle Phase des Lebens "outzusourcen" und das ohnedies definitive Ende ein wenig vorzuziehen. Dazu müsse der einzelne Mensch in seiner unbezogenen Freiheit das Recht haben, skizziert Zulehner die entsprechende Position.
Die Befragten würden seiner Studie nach für die unbedingte Freigabe der aktiven Sterbehilfe viele gute Gründe anführen, die ihr eingefordertes Freiheitsrecht untermauern. Ganz zentral sei die Angst vor unerträglichen Schmerzen, sodann die Perspektive, dass man als Sterbender in jeder Lebens- und Sterbensäußerung von pflegenden Angehörigen abhängig ist. Zudem seien für die Sozialversicherung die letzten sechs Lebenswochen eines Menschen die teuersten. Früher den Tod aktiv herbeizuführen sei dann auch noch ein Dienst am Sozialstaat.
Ein Perspektivenwechsel lohne sich aber, so der Theologe weiter: "Kränkt es nicht die Hightechmedizin, dass die Menschen Angst haben müssen, dass psychische und physische Schmerzen nicht zugedeckt, nicht 'bemäntelt' werden können? Ist das Vertrauen in eine professionelle palliativ care wirklich so schwach? Und schafft die neue Freiheit des Sterbens nicht enormen Druck auf Angehörige, die eben aus Liebe den Kindern nicht zu Last fallen wollen? Und ist die reiche Gesellschaft wirklich so überfordert, in den letzten sechs Lebenswochen den Menschen nicht die Möglichkeit zu geben zu können, mit "dignity and character" (Cicely Saunders) das Sterben als Teil ihres Lebens zu vollbringen?"
"Überzeugte Unsterbliche"
Zulehner zeigt sich überzeugt: "Wer das Sterben vollbringen will, auch weil sie, er überzeugt ist, dass die Wirklichkeit der eigenen Existenz sich nicht in 90 Jahren erschöpft, sondern es im Tod zu einer unerhörten Transformation der Existenz kommt, wird dieses Freiheitsrecht für sich nicht in Anspruch nehmen. Überzeugte Unsterbliche, die sich eingebettet wissen in die Weite einer außeralltäglichen Welt, werden die auch ihnen gewährte Freiheit nicht beanspruchen."
Es bleibe aber freilich immer noch die Sorge um jene, die die auf den ersten Blick befreite Freiheit der einen unter gewaltigen Druck setzt: die pflegenden Angehörigen, die Erben, die auf das Wohl aller verpflichteten Verantwortlichen des überforderten Sozialstaats. Sie alle seien die Leidtragen der Freiheit und auch des Beschlusses der deutschen Verfassungsrichter.
Quelle: kathpress