Bibelannäherung erfordert "Herz, nicht Pinzette"
Die Texte der Bibel sind "immer auch Kunstwerke" und "Gemälden" vergleichbar, die "Augen und Herz, nicht eine Pinzette" erfordern. Mit diesen Worten hat Prof. Hans-Georg Gradl, Neutestamentler in Trier, bei der Pastoraltagung in Salzburg auf die Defizite einer historisch-kritischen Herangehensweise hingewiesen, die Bibeltexte in möglichst kleine Entstehungs- und Überlieferungseinheiten zerlegt. Sein Appell nicht nur an die rund 350 Mitarbeitenden in Seelsorge, Bildung und Religionspädagogik, die bis Samstag in Salzburg-St.Virgil an der größten österreichischen Pastoral-Fortbildungsveranstaltung teilnahmen:
Lasst euch von den Farben und Formen, Gerüchen und Tönen der biblischen Erzählung faszinieren. Demontiert das Werk nicht!
Gradl verdeutlichte in seinem vielbeklatschten Vortrag neue Ansätze und Einsichten in der Bibelwissenschaft am Beispiel der sperrigen Johannesapokalypse, dem visionären letzten Buch des Neues Testaments mit apokalyptischen Reitern, Drachen und der "Hure Babylon". Die scherzhafte rhetorische Frage des Theologen zum Autor: "Was hat der geraucht, um zu solchen Bildern zu kommen?" Immerhin 580 Zitate aus dem Alten Testament verwende Johannes, um seine Adressaten - die am Ende des ersten Jahrhunderts ausgegrenzte christliche Minderheit im westlichen Kleinasien - zum Durchhalten in einer ablehnenden Gesellschaft und zu "Mitvisionären" zu machen.
Ein ganzheitlich wahrgenommener, nicht zerstückelter Text habe eine Auslegungs- und Wirkungsgeschichte, die ebenso zu berücksichtigen sei wie seine angestrebte Wirkung auf damalige Gläubige, erklärte Gradl. Er inspiriere seine Leserschaft und "generiert stets neue Verständnisweisen im Lauf der Geschichte", was wiederum je neue Perspektiven aufzeige.
Der Bibelwissenschaftler verdeutlichte dies am Beispiel der heute aktuellen geschlechtersensiblen Exegese: In der Bibel zeigten sich kulturelle Vorurteile, menschliches Unvermögen, gesellschaftliche Defizite und soziale Differenzen. Aber:
Nur weil Frauen nicht ähnlich breitflächig erwähnt werden wie Männer, heißt dies noch lange nicht, dass sie keine Rolle etwa in der Jesusbewegung oder in den urchristlichen Gemeinden spielten.
Gradl regte an auszuloten, wo die Bibel die gesellschaftlichen Standards ihrer Zeit durchbricht, wo Jesus und die Urchristen Wege gingen, die man damals so nicht erwarten konnte. "Das sind Wegweiser", betonte der Neutestamentler, "dort verbirgt sich Aktualisierungspotenzial!"
Gradl relativierte auch die Sichtweise, die Bibel vermittle keine historischen Wahrheiten, sondern verkünde "nur" Glauben: Evangelien seien Jesus-Erinnerungen der frühen Christen, in denen beides zusammenkomme - Geschichte und Deutung. Grundsätzlich sei Vergangenheit nur als erzählte und gedeutete Geschichte zugänglich, so Gradl. Nicht umsonst gingen "Fakten" auf das lateinische "factum" (gemacht") zurück, und im englischen "history" stecke "story".
Streng wissenschaftliche Zugänge durch Analyse von Texten, Inschriften und Ausgrabungen würden damit nicht obsolet. Wie für andere Bibeltexte gelte für die Johannesapokalypse: "Das Wissen um die damalige Zeit verleiht den Worten des Sehers Kontur und Inhalt", erklärte Gradl.
Die Bibel als "Quelle" und ihre Fassung
Die lehramtliche Tradition hat eine Schutzfunktion gegen jede Art von "Verwässerung" der biblischen Botschaft, die man als "Quelle" und Frischwasser, das Lehramt dagegen als Quellfassung oder Brunnen bezeichnen könnte. Darauf wies der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler bei einem Dreiergespräch im Rahmen der Pastoraltagung hin. In dem Austausch mit dem Linzer Neutestamentler Prof. Christoph Niemand und der Salzburger Seelsorgeamtsleiterin Lucia Greiner nannte Glettler als Beispiel für eine solche Verwässerung Plakate, die er in Nigeria gesehen habe: "God is rich", so die Aufschrift darauf, und zu sehen sei ein sichtlich wohlhabender Geistlicher.
Die Seelsorge müsse sich vom lebendigen Ursprung des menschgewordenen Wortes immer neu in Frage stellen lassen, betonte der Bischof. Denn das Wort Gottes bleibe "die erste Inspiration, Orientierung und geistliche Nahrung für alle Glaubenden und - noch - Nicht-Glaubenden".
Dass dies auch langjährigen "Profis" im Umgang mit der Bibel immer wieder passiert, verdeutlichte Prof. Niemand mit einem theologischen Leitmotiv im Neuen Testament: Er sei stets neu berührt davon, dass der Höchste niedrig wird, damit die Niedrigen erhöht werden. Wo dies in Pfarrgemeinden vermittelt werde durch sorgsam gestaltete Gottesdienste und karitative Sozialprojekte, "die Reich-Gottes-Erfahrungen generieren", kämen auch davon ansprechbare Leute, so Niemands Erfahrung jenseits von "Krisenklagen".
Eine als Zeitungsbeilage verbreitete Broschüre mit Anregungen für das Weihnachtsfest - auf dem Cover eine leere Krippe und die fragende Aufschrift "... der Retter ist da?", habe in Salzburg viele Irritationen ausgelöst und provoziert, berichtete Seelsorgeamtsleiterin Greiner. Sie halte es aber für wichtig, kirchlicherseits nicht nur die "Überzeugten" zu bedienen, sondern sich den auch unbedarften Fragen der Menschen zu öffnen. Die Bibel selbst stehe ja den Menschen zu Verfügung - "auch ohne Ja zum Glauben". In einer Zeit, da es viele Grenzziehungen und Ausschließungen bis hin zu selektierenden Algorithmen gebe, solle sich die Kirche offen halten für alle, sagte Greiner. Dass die Kirche für viele der einzige Ort sei, an dem eine Feierkultur gepflegt, längere Texte gehört und noch gemeinsam gesungen wird, habe auch eine wichtige soziokulturelle Funktion.
Die Bibel - immer und überall
"Die gute Nachricht für Bibelliebende ist: Der Bibel begegnet man hierzulande fast überall": Das illustrierte Bibelwerksdirektorin Elisabeth Birnbaum in ihrem Vortrag am Freitag anhand zahlreicher Beispiele aus Kirche, Literatur, Musik, Kunst, Popkultur und Werbung. So gebe es im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert etliche Opern und Oratorien, auch aus dem nichtkirchlichen Kontext, die sich mit biblischen Stoffen auseinandersetzen, zugleich heutige Hiphop-Musiker wie Snoop Dogg oder Kanye West und auch Vertreter der Metal-Szene. Reklamebotschaften über Kraftwagen wie "Du sollst keinen anderen neben mir haben" oder über Zigaretten ("Das erste Gebot: Du sollst deine Freunde nicht langweilen") greifen laut Birnbaum ebenfalls gerne auf Biblisches zurück.
In jüngerer Zeit beobachtet Birnbaum die Tendenz, dass biblische Stoffe in der Kunst "ins Karnevaleske verzerrt" würden, dass Kleinfomatiges mit einem Fokus auf Pointen und Verfremdung zunehme. Auch in der Literatur würden die Bezüge "oberflächlicher und klischeehafter". Das führe zur Vermischung von Mythen, Fanatsy und Bibel; letztere sei "aufregend, irgendwie mystisch, geheimnisvoll" und dadurch massentauglich. Die Bibel diene u.a. als historisches Geschichtenbuch, Fantasyroman, als "Container für Zitate und Argumente ... und zur freien Entnahme von Gebrauchsgegenständen". Fazit der Bibelwerks-Chefin: Viele Zugänge zur Bibel seien heute möglich und gebräuchlich; auch wenn sie an der Oberfläche blieben, "können sie einen Einstieg bieten, tiefer zu gehen".
"Bibel. hören lesen leben" lautete das Thema der diesjährigen Pastoraltagung, an der laut dem veranstaltenden Österreichischen Pastoralinstitut 370 Interessierte teilnahmen. Die Tagung im Jänner 2021 wird dem Thema Jugend gewidmet sein, kündigte ÖPI-Generalsekretär Walter Krieger an. (Info: www.pastoral.at/pastoraltagung)
Quelle: kathpress