Ungarischer Theologe: "Schatten der Vergangenheit sind lang"
Für eine "Theologie der misericordia passionis", die die dramatische Geschichte Ostmitteleuropas und seiner Menschen anerkennt, wirbt der ungarische Religionswissenschaftler Andras Mate-Toth. "Die Schatten dieser Vergangenheit in einer Zeit der primitiven und der raffinierten Diktatur sind lang. Die Erinnerungen an das Leiden und die Verluste sind lebendig", sagte er am Mittwochabend bei seiner Abschiedsvorlesung als Dozent an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Uni Wien. Nach der Zeit totalitärer Regime sieht Mate-Toth die Seele dieser Länder nach wie vor "verwundet". Für eine konstruktive Zukunft brauche es gesellschaftlich die Förderung einer Logik des Erbarmens und der Barmherzigkeit statt der Rache. Die aus der Geschichte geprägte Lebensrealität aber gelte es zu akzeptieren.
"Das Ausharren bei der dramatischen Realität nenne ich 'misericordia passionis'", erklärte Mate-Toth, der seine Gedanken dazu auch in seinem heuer erschienenen Buch "Freiheit und Populismus: Verwundete Identitäten in Ostmitteleuropa" dargelegt hat. Der vor wenigen Tagen verstorbene Theologe Johann Baptist Metz habe den Begriff "memoria passionis", des Eingedenken von geschichtlichem Leid, geprägt, erinnerte der Religionswissenschaftler: "In Ostmitteleuropa lehrt Gott, dass die Memoria noch einen Schritt braucht, die Misericordia, die Macht des Opfers zu erbarmen."
Impulse dazu zog Mate-Toth in seiner Vorlesung aus der Literatur Ostmitteleuropas. Auch diese wolle keinen Ausweg aus der dramatischen Vergangenheit aufzeigen, sagte der Religionswissenschaftler, der u.a. aus Werken von Autoren wie Andrzej Stasiuk oder der Nobelpreiräger Swetlana Alexijewitsch und Imre Kertesz zitierte. Aber, so Mate-Toth:
Die Literatur hat die Macht der Narrative, das allzu bekannte Unbekannte zu erzählen und eine Welt für das Leben zu zeichnen. Und das ist auch Aufgabe der Theologie.
"Aufrechten Hauptes Christ sein"
Andras Mate-Toth (62) ist Professor für Religionswissenschaft an der Universität Szeged. Anfang der 1980er Jahre musste er aus politischen Gründen Priesterseminar und Hochschule verlassen und war danach bis zur Wende als Bibliothekar, Krankenpfleger und Hilfsarbeiter tätig. Als einer der ersten Stipendiaten des vom Theologen Paul Zulehner gegründeten "Pastoralen Forums" kam Mate-Toth 1989 nach Wien, wo er promovierte und habilitierte, bevor er in Szeged das erste Religionswissenschaft-Institut in Ungarn aufbaute.
Mate-Toth sei "ein lebendiger Zeuge, wie man in einem totalitären Regime aufrechten Hauptes Christ sein kann", sagte Zulehner in einleitenden Worten am Mittwochabend. Auch nach seiner Rückkehr nach Ungarn war Mate-Toth in den vergangenen Jahrzehnten aktiv an Forschung und Lehre der Wiener Katholisch-Theologischen Fakultät beteiligt, wie der aktuelle Dekan Johann Pock und die Leiterin des Instituts für Praktische Theologie, Regina Polak, erinnerten. Seine Tätigkeit als Dozent in Wien legt Mate-Toth nun u.a. wegen eines Großprojekts in Zusammenarbeit mit der Ungarischen Akademie der Wissenschaft zurück.
Gegensätze "aushalten und austragen"
Erst kürzlich hatte der ungarische Theologe auch in Graz über die Entwicklung in Ostmitteleuropa seit der Wende gesprochen, die heute teils auch Sorgen auslösen. Im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1989 sei es zu Missverständnissen gekommen, meinte der Religionswissenschaftler bei einem Vortragsabend auf Einladung u.a. von Welthaus der Diözese Graz-Seckau und Pro Oriente.
In den westlichen Gesellschaften dachte man: Nun wird im Osten alles normal, so wie bei uns. Im Osten war man der Meinung, wenn die Russen nach Hause gehen, kommt der Wohlstand. Doch so war es nicht.
Heute sei neben der staatlichen Souveränität die Freiheit ein zentraler Wert, betonte Mate-Toth. Er verwies auf freie Wahlen, Reisefreiheit, freie Meinungsäußerung und Religionsfreiheit. Meilensteine seien auch die Kontrolle durch die Verfassung, die Bildung einer Zivilgesellschaft, die Einbindung in die EU und die freie Marktwirtschaft. Auf dem Weg dorthin sei man jedoch naiv vorgegangen:
Man hatte keine Ahnung von diesen Werten und ist in diesen Dschungel ohne Karte hineingegangen.
Eine Marktwirtschaft zu errichten, sei das eine; wie man damit umgehe, eine andere Sache.
Mit einem Zitat des Soziologen Ralf Dahrendorf mahnte Mate-Toth zur Geduld: "Ein politisches System kann man in sechs Monaten abbauen. Aber ein neues System kann man vielleicht in 60 Jahren aufbauen." Insofern sei die aktuelle Sorge um Europa zwar berechtigt, aber "wir befinden uns erst in der ersten Spielhälfte".
Der tief verankerte Wunsch nach Autonomie mache es in Ostmitteleuropa so schwierig, fremde Menschen aufzunehmen. "Im demokratischen Raum muss man Gegensätze aushalten und austragen", meinte der Religionswissenschaftler dazu. Er plädierte dafür, gemeinsam Visionen für eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, "innerhalb unserer Länder, in Europa und in anderen Kontinenten".
Quelle: kathpress