Religionspädagogin: Schulen müssen zu sicheren Orten werden
Mehr Aufmerksamkeit und Anstrengung sollte darauf gerichtet werden, Schulen von Orten der Angst zu Orten des Schutzes und der Sicherheit umzuwandeln. - Das hat die Religionspädagogin Andrea Lehner-Hartmann am Montagabend bei der Ringvorlesung "Sexuelle Missbrauch von Minderjährigen: Verbrechen und Verantwortung" an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien gefordert. Wenn die Schule Erkenntnisse der Traumapädagogik übernehme und klar definierte Plätze zuteile, an denen sich Kinder und Jugendliche sicher und angenehm fühlen - sogenannte "safe spaces" -, so könnte sich dies auch in besseren Leistungsergebnissen in Vergleichsstudien niederschlagen, sagte die Theologin, die auch stellvertretende Leiterin des Zentrums für LehrerInnenbildung an der Universität Wien ist.
In Sachen Gewaltprävention besteht laut der Expertin in Österreichs Schulen weiterhin dringender Handlungsbedarf: In der diesbezüglichen OECD-Studie aus dem Jahr 2015 schien die Alpenrepublik bei Mobbing- bzw. Bullying-Erfahrungen von Schülern als negativer Spitzenreiter auf. Jeder fünfte Bub zwischen elf und 15 Jahren hat zumindest zwei solche Erfahrungen in den vergangenen zwei Monaten in der Schule gemacht, auch ist mit 21,3 Prozent der Anteil von Mobbingopfern dieser Altersgruppe fast doppelt so hoch wie der internationale Schnitt, der bei 11 Prozent liegt. Die Zahl der Bullying-Opfer ist demnach in Österreich im Gegensatz zu etlichen anderen Ländern in den vergangenen Jahren sogar noch gestiegen.
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Während es bei Mobbing und Bullying um verbale Attacken, ungerechte Behandlung und Demütigung, seltener um physische Gewalt und im Fall von Cyberbullying um das Verbreiten gemeiner oder unvorteilhafter Nachrichten über eine Person geht, dürfen jedoch auch die oft im Hintergrund bleibenden Formen sexualisierter Gewalt nicht übersehen werden, forderte Lehner-Hartmann. Aktuellen Studien aus Hessen zufolge hat fast jeder zweite 14- bis 16-jährige AHS-Schüler (48 Prozent) schon sexuelle Beleidigung oder verbale Belästigung erfahren. Körperliche sexuelle Gewalt hat fast jeder Vierte (23 Prozent) mindestens einmal erlebt, 70 Prozent haben diese bereits beobachtet.
Von sexualisierter Gewalt sind Mädchen laut den Studien weit öfter betroffen als Jungen, wobei eine körperlich frühe Entwicklung das Risiko noch zusätzlich erhöht. Der Konsum von Pornofilmen - bei Jungen dreimal häufiger anzutreffen als bei Mädchen - spielt laut Lehner-Hartmann eine gewichtige Rolle: "Jugendliche, die sich öfter Pornos anschauen, gehören signifikant häufiger zu denen, die sexuelle Gewalt ausüben", betonte die Religionspädagogin. Evident sei, dass in Pornofilmen "Rollenbilder vermittelt werden, die auf Macht, Gewalt und Dominanz von Männern gegenüber Frauen aufbauen, dem spiegelbildlich die Unterwerfung und Erduldung von Frauen entspricht".
"Viktimisierende Kultur"
Österreichs Lehrer bräuchten noch weit mehr Wissen über Gewalt und ihre Folgen, über die psychischen Mechanismen traumatischer Ereignisse, jedoch auch über die sozialen Strukturen, die zu diesen führen, forderte Lehner-Hartmann. In etlichen Schulen gebe es eine "viktimisierende Kultur", die Gewaltübergriffe und Ausbeutung von Abhängigen zulasse, sexistische oder rassistische Äußerungen dulde, körperliche und sexualisierte Gewalt bagatellisiere oder verschweige, mit den Tätern kollaboriere und den Opfern nicht Glauben schenke. Dies befördere ein Schweigen der Opfer ebenso wie es die Wahrnehmung des Ausmaßes der Übergriffe und ihrer Verharmlosung durch die Umwelt verhindere. Es erschwere den Traumatisierten, Hilfe zu holen und ihre Erlebnisse zu verarbeiten, und behindere somit ihre Entwicklung.
Gegenmaßnahmen sollten nicht nur Opfer und Täter, sondern auch auf die anderen beteiligten Mitschüler, die sogenannten "Bystander", einbeziehen und sie nicht die Rolle des stummen, vielleicht verzweifelten Zuschauers oder gar des Konfliktverstärkers oder Mittäters kommen zu lassen, forderte die Expertin. "Studien zufolge sind 90 Prozent der Mitschüler Zeugen - aber nur 20 Prozent greifen ein. Wenn sie allerdings eingreifen, werden 60 Prozent der Vorfälle sofort beendet." Bystander bräuchten Perspektiven und Stärkung ihres Gruppenzusammenhalts, damit sie sich beim nächsten Mal getrauten, gemeinsam einzugreifen; dass sie dem Opfer einen Schutzraum anbieten könnten oder mit ihrer Haltung deutlich machten, dass gewalttätiges Verhalten unerwünscht ist.
Schüler mit der "Trauma-Linse" sehen
Als erfolgsversprechende Intervention stellte die Religionspädagogin hier den traumapädagogischen Ansatz hervor. Es handle sich dabei um eine Grundhaltung, bei der unangepasstes Verhalten von Schülern in jeglicher Form - von Konzentrations- und Lernschwierigkeiten über Schulversagen, Schulschwänzen und Wutausbrüchen bis hin zu auffällig sexualisiertem Verhalten - unter einer "Trauma-Linse" gesehen wird. Kinder werden dabei verstärkt in ihren Bedürftigkeiten gesehen, ihr Verhalten als eine "normale Reaktion auf eine außerordentliche Belastung". Angesichts der weiten Verbreitung von extremem Stress und traumatischen Erfahrungen und oftmaliger Fehlinterpretation der Folgeerscheinungen sei dieser Ansatz durchaus gerechtfertigt, befand die Expertin.
Auch gelte es bei diesem Ansatz, belasteten Kinder und Jugendlichen Sicherheit zu vermitteln und über Beziehungsangebote "Vertrauen, Orientierung, Respekt, Empathie und Anteilnahme" erfahren zu lassen, wie Lehner-Hartmann erklärte. Die hier besonders geforderten pädagogischen Fachkräfte müssten dabei nicht lange Gespräche führen, vielmehr reiche es oft, in kleinen Alltags- und Dialogsequenzen etwa den Mut einer Schülerin, die von ihren Erfahrungen erzählt, zu loben. "Indem die Lehrpersonen mit ihrer Beziehung entängstigend wirken, können sie die Kinder und Jugendlichen darin unterstützen, ihre Umwelt nicht als bedrohlich zu erleben", sagte die Expertin. Schüler sollten auch dazu angeregt werden, nach dem "guten Grund" ihres Verhaltens zu forschen, etwa durch die Frage "Du tust das, weil?", die in dieser Formulierung nicht in die Defensive dränge.
Behörden starten Initiativen
Immerhin ist mittlerweile im deutschen Sprachraum beim Thema Umgang mit Trauma einiges in Bewegung gekommen, besonders nach den Missbrauchsskandalen in pädagogischen Einrichtungen und infolge der Integration geflüchteter Kinder aus Kriegsgebieten. Die Religionspädagogin führte hier die 2016 in Deutschland gestartete Initiative "Schule gegen sexuelle Gewalt" an, die auf Sensibilisierung und Qualifizierung des Schulpersonals, Grundlagenwissen auch über Täterstrategien und Erarbeitung eines "Verhaltenskodex" abzielt, sowie auf Prävention, Erkennen und Intervenieren. In Österreich beauftragte das Bildungsministerium im Rahmen des Schwerpunktes "Weiße Feder - Gemeinsam für Fairness gegen Gewalt" den Verein "Österreichisches Zentrum für psychologische Gewaltprävention im Schulbereich" (ÖZPGS) zu entsprechenden Maßnahmen, eng abgestimmt mit der Schulpsychologie-Bildungsberatung.
Lehner-Hartmann referierte im Rahmen der Ringvorlesung "Sexueller Missbrauch von Minderjährigen: Verbrechen und Verantwortung", in deren Rahmen hochkarätige Fachleute jeden Montagabend im Wintersemester verschiedene Facetten der Missbrauchsskandale in Kirche und Gesellschaft beleuchten. Referenten waren dabei bereits u.a. der deutsche Jesuit Klaus Mertes, die Missbrauchsexpertin Mary Hallay-Witte, der Frankfurter Hochschulrektor Ansgar Wucherpfennig sowie auch Kardinal Christoph Schönborn. In der kommenden Woche spricht der Jesuit Hans Zollner über die Arbeit des von ihm geleiteten päpstlichen Kinderschutzzentrums an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. Die öffentlichen Vorlesungen beginnen jeweils um 18.30 im Franz-König-Saal (Hörsaal 6) im Hauptgebäude der Universität Wien (Universitätsring 1).
Quelle: kathpress