Zulehner bedauert "Selbstauflösungsprozess" der Sozialdemokratie
Die enormen Umwälzungen in der Arbeitswelt würden eine starke Sozialdemokratie als "historisch gewachsene Partei der Gerechtigkeit" erfordern; diese befinde sich jedoch nicht nur in Österreich, sondern in ganz Europa in einem dramatischen "Selbstauflösungsprozess". Wie der Wiener Theologe und Religionssoziologe Paul Zulehner im Interview mit der Nachrichtenagentur "Kathpress" sagte, werde ihm bei dieser Entwicklung "angst und bange" und er hoffe, dass sich die Sozialdemokratie von ihrer momentanen Krise wieder erholt.
Paul Zulehner zum Stand der Sozialdemokratie
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"Wir rasen zur Zeit auf eine neue soziale Frage zu", so die Diagnose des Werteforschers. Karl Marx Befund gelte auch heute wieder: Wenn sich die Produktionsmittel ändern, ändert sich die gesamte Sozialgestalt einer Gesellschaft. Im 19. Jahrhundert war die Erfindung der Dampfmaschine ein Einschnitt, jetzt ist es die Digitalisierung und Robotisierung, wies Zulehner hin. Er prognostizierte "einen unglaublichen Umbau in der Arbeitswelt", der wohl zwei Generationen beschäftigen werde. Der Theologe rechnet mit einer großen Zahl von Leuten, die ihren Arbeitsplatz verlieren:
Das beginnt schon jetzt und wird sich in den nächsten Jahren temporeich fortsetzen.
Dadurch steige aber auch der Bedarf nach politischen Kräften, die diese wirtschaftliche Entwicklung nicht neoliberal fördern oder gestalten, sondern solche, die sich auf die Seite der Modernisierungsverlierer stehen. In dieser Hinsicht ortete Zulehner eine große Schwäche der Sozialdemokratie und noch mehr der Gewerkschaften, die sich nur für zahlende Mitglieder mit Arbeitsplatz und nicht für die Arbeitslosen interessieren würden. Zulehners Überzeugung: Die Sozialdemokratie müsse sich vorrangig um jene kümmern, die aus dem herkömmlichen Wirtschafts- und Industriebetrieb hinausfallen; statt der beobachtbaren Krise brauche es geradezu eine "Hochkonjunktur" der Sozialdemokratie.
Brückenschlag zu allen "Lagern"
Der emeritierte Professor für Pastoraltheologie an der Universität Wien gilt hinsichtlich des Brückenschlags zwischen Kirche und Sozialdemokratie in der Zweiten Republik als Zeitzeuge: Er promovierte 1964 mit einer Untersuchung über den Austromarxismus zum Doktor der Theologie. Das trug ihm auf Wunsch von Kardinal Franz König die Teilnahme am Dialog zwischen der damaligen Katholischen Aktion und hochrangigen Vertretern der SPÖ wie Bruno Kreisky ein.
Mit dem Altbundespräsidenten Heinz Fischer sei er - wie Zulehner erzählte - noch aus dessen Zeit als Politologie-Assistent gut bekannt, er habe aber auch ein Nahverhältnis zu hochrangigen Christdemokraten wie dem ehemaligen ÖVP-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel oder Nationalratspräsident Andreas Khol. Die Kirche schlägt überallhin Brücken, kommentierte Zulehner seine politische Dialogfreudigkeit, "das haben wir von Kardinal König gelernt".
Quelle: kathpress