Theologe: Missbrauchskrise erfordert Überdenken der Sexualmoral
Der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche macht eine Erneuerung ihrer Sexualmoral und zugleich eine Neubewertung des Themas Homosexualität aus kirchlicher Sicht notwendig: Das hat der Frankfurter Jesuit und Neutestamentler Prof. Ansgar Wucherpfennig am Montagabend in Wien unterstrichen. In seinem Vortrag im Rahmen der 14-teiligen Ringvorlesung "Sexueller Missbrauch von Minderjährigen: Verbrechen und Verantwortung" an der Katholisch-Theologische Fakultät stellte er die These auf, dass eine solche Neuorientierung auch die "Risikogruppe" jener missbrauchsgefährdeter Kleriker verkleinern würde, die einen "zynischen", weil selbstverleugnenden Zölibat leben würden.
Wucherpfennig - er kam als Rektor der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt wegen seiner Kritik am kirchlichen Umgang mit Homosexuellen und mit Frauen in Konflikt mit der vatikanischen Bildungskongregation - erteilte zugleich der von "rechtskatholischen" Kreisen und auch im Vatikan verbreiteten These eine Absage, die - als neurotisch zu verstehende - homosexuelle Orientierung von Priestern sei maßgeblich für kirchliche Missbrauchsfälle verantwortlich. Freilich bestehe ein innerkirchlicher Druck, dass Priester ihre Sexualität verleugnen und damit in diesem Bereich unreif bleiben. Der Theologe zitierte dazu Daten, wonach die Opfer sexueller Übergriffe von Klerikern zu fast zwei Drittel männlich sind - ein Prozentsatz, der im außerkirchlichen Kontext anders aussehe.
Der Vortrag von P. Wucherpfennig zum Nachhören
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Im katholischen Klerus gebe es viele "erschreckend grau und unpersönlich" Gewordene, die zugestimmt hätten, "nicht sie selbst zu sein", so Wucherpfennigs Beobachtung. Wenn diese in Verantwortungspositionen kämen, würden sie alles tun, um die traditionelle katholische Sexualmoral aufrecht zu erhalten und sich ihrer eigenen sexuellen Unreife nicht zu stellen. Pädosexuell ausgeübte Macht sei unter solchen Personen überproportional verbreitet.
Lehramt stützt sich auf Paulusbriefe
Beim Thema Homosexualität bezieht sich das kirchliche Lehramt in seiner Ablehnung vor allem auf Passagen in Paulusbriefen, in denen von "widernatürlichen" Beziehungen zwischen Männern die Rede ist, erklärte der Bibelwissenschaftler. In der gesamten Bibel gebe es nur fünf Stellen, in denen gleichgeschlechtliche Aktivitäten verboten würden oder negativ konnotiert seien - zwei davon beim Völkerapostel Paulus, der als ausgebildeter Thoralehrer die Sichtweise des Buches Leviticus übernommen habe, wo homosexuelle Akte als "Gräuel" sogar unter Todesstrafe standen. Er selbst habe sich im Römerbrief (Röm 1,26f) gegen die Dekadenz der nichtjüdischen Kultur in Rom gewandt, die körperlich greifbar sei im sexuellen Verkehr "gegen die Natur".
Wucherpfennig stellte die paulinischen Aussagen in den Kontext der Auseinandersetzung mit der damals in Rom verbreiteten Stoa, deren Vertreter sexualisierte Beziehungen mit - in den Augen von Paulus - "unmännlichen Weichlingen" pflegten. Bei Paulus hatten Männern stark und streng zu sein, und die Aufforderung, "nicht mit einem anderen Mann zu schlafen wie mit einer Frau" sei als Verbot zu verstehen, durch eine dominante Rolle beim Geschlechtsverkehr einen anderen Mann zu demütigen. In Bezug auf die Geschlechterrollen bediene sich Paulus "stereotyper Werturteile, die er aus der Thora und seiner jüdisch-hellenistischen Umwelt übernahm", erklärte Wucherpfennig. Die Fortpflanzungsfunktion von Sexualität - später in der katholischen Lehre lange Zeit als einziger legitimer Zweck für sexuelle Akte gedeutet - spiele bei Paulus keine Rolle.
Das Fazit des Neutestamentlers: "Natürliche" bzw. "widernatürliche" Sexualität bei Paulus dürfe nicht mehr als Basis für ein lehramtliches Urteil über Homosexualität im Allgemeinen herangezogen werden. Die gesamte Bibel stellt laut Wucherpfennig keinen Zusammenhang zwischen sexualisierter Gewalt und einer bestimmten sexuellen Orientierung her. Zu berücksichtigen sei, dass die Heilige Schrift Hetero- und Homosexualität als "binäres System" sexueller Orientierung noch nicht kennt; wohl aber hätten die Bibel und deren antike Umwelt gewusst, dass Sexualität soziale Rollen von "männlicher" Überordnung und "weiblicher" Unterordnung zum Ausdruck bringt.
Der Katechismus als verbindliche Glaubensgrundlage für Katholiken teile zwar die Auffassung, wonach homosexuelle Handlungen "in sich nicht in Ordnung" seien, weil gegen das gottgegebene natürliche Sittengesetz gerichtet; immerhin werde im Katechismus eine homosexuelle Orientierung als nicht selbst gewählt anerkannt, so Wucherpfennig. Die Trennlinie zu entsprechenden Handlungen werde zwar zurecht kritisiert, aber für viele sei die Differenzierung im Katechismus ein erster Schritt, um Vorurteile gegenüber Homosexualität zu hinterfragen.
Was "ins Herz eingeschrieben" ist
Der deutsche Theologe nahm eine andere Stelle aus dem Römerbrief als Grundlage einer möglichen Neuausrichtung der katholischen Sexualmoral: So sei im Römerbrief (Röm 2,14f) die Rede davon, dass das Gesetz Gottes auch in die Herzen von Nichtjuden, von Heiden eingeschrieben sein könne. Eine homosexuelle Orientierung entspreche dann zwar nicht einem wörtlichen biblischen Verständnis von menschlicher Natur, aber sie gehöre zur Natur derjenigen Menschen, die gleichgeschlechtliche Liebe als "in ihr Herz eingeschrieben" erfahren. Das bedeute freilich auch einen verantwortungsvollen Umgang damit: Wucherpfennig nannte Gewaltlosigkeit, Einvernehmlichkeit, Gegenseitigkeit und Verbindlichkeit als Werte, die unabhängig von Homo- oder Heterosexualität verpflichten. Pädosexuelle Handlungen verletzten diese Werte jedoch grundsätzlich, da bei ihnen niemals auf gleicher Augenhöhe agiert werde.
Es gelte in der heutigen Situation zu verstehen, was Gottes Wort ist, umschrieb der Bibelwissenschaftler die Aufgabe mündiger Christen. Auf der Suche danach brauche es den Dialog der jeweiligen Lebenswelt mit der Bibel. Und für eine Neuformulierung ihrer Sexualmoral brauche die Kirche mehr als das Zeugnis der Bibel: Wucherpfennig nannte hier neben den Erkenntnissen der theologischen Tradition und auch die modernen Humanwissenschaften sowie die Erfahrungen der Gläubigen als zu berücksichtigenden "locus theologicus".
Initiiert wurde die Wiener Ringvorlesung "Sexueller Missbrauch von Minderjährigen: Verbrechen und Verantwortung" vom Wiener Theologen Prof. Wolfgang Treitler. Im Wintersemester setzen sich jeden Montagabend hochkarätige Fachleute mit dem Skandal auseinander, der die katholische Kirche in den vergangenen Jahren erschütterte. U.a. waren dabei in Wien bereits der deutsche Jesuit Klaus Mertes, die Missbrauchsexpertin Mary Hallay-Witte und zuletzt Kardinal Christoph Schönborn und Andreas Batlogg zu Gast.
Zu den weiteren Referenten in den kommenden Wochen zählen der Leiter des päpstlichen Kinderschutzzentrums an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom, Hans Zollner, sowie die Religionspädagogin Andrea Lehner-Hartmann. Die öffentlichen Vorlesungen beginnen jeden Montag jeweils um 18.30 im Franz-König-Saal (Hörsaal 6) im Hauptgebäude der Universität Wien (Universitätsring 1).
Quelle: kathpress