Symposium: In der Kirche auch "Missbrauch im Kopf" verhindern
Die katholische Kirche stellt sich dem lange Zeit tabuisierten Missbrauch - ein Thema, das als kirchliche und gesellschaftliche Realität schmerze, wie der Grazer Bischof Wilhelm Krautwaschl zu Beginn des Symposiums "Geistiger Missbrauch" erklärte. Die zweitägige interdisziplinäre Annäherung an diese "Grauzonen" wird von der Diözese Graz-Seckau gemeinsam mit der Katholisch-Theologischen Fakultät und der Medizinischen Universität in Graz veranstaltet, sie endete am Samstag. Vortragende zum Aspekt des geistigen bzw. spirituellen Missbrauchs, der abseits des sexuellen vorkommt, waren auch Fachleute aus den Rechtswissenschaften und aus Psychologie bzw. Psychotherapie.
Die Fachtagung begann mit der Einspielung eines mittlerweile berühmt gewordenen Gesprächs vor TV-Kameras: Der Wiener Erzbischof Kardinal Christoph Schönborn und die ehemalige deutsche Ordensfrau Doris Wagner hatten sich zu Beginn des Jahres über Missbrauch in der Kirche - den Wagner selbst erlitt - ausgetauscht. Das ehemalige Mitglied der Ordensgemeinschaft "Das Werk" habe durch ihre Bücher und die Anregung, das Thema Missbrauch aus dem Blickwinkel verschiedener Wissenschaften zu beleuchten, den Anstoß zum Symposium in Graz gegeben, erläuterte Initiator Gerhard Hörting, Gerichtsvikar der Diözese Graz-Seckau.
Dafür wurden Theologen wie der frühere Professor für Spiritualität an der Gregoriana in Rom, P. Anton Witwer SJ, oder der Grazer Moraltheologe Walter Schaupp ebenso gewonnen wie Caroline List, Präsidentin des steirischen Landesgerichts für Strafsachen und Mitglied der von Kardinal Schönborn zur Aufarbeitung von Missbrauchsfällen eingesetzten "Klasnic-Kommission", Med-Uni-Rektor Hellmut Samonigg oder der Psychiater und "pro mente Austria"-Präsident Günter Klug. Unter den mehr als 200 interessierten Teilnehmern war neben Bischof Krautwaschl an der Spitze vieler Vertreter der Diözese Graz auch der Bischof von Dresden-Meißen, Heinrich Timmerevers. Grüße von Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer und Bürgermeister Siegfried Nagl übermittelte Theologie-Dekan Christoph Heil.
Heil begrüßte es eingangs, dass die Kirche selbst initiativ wird, sich einem "leider brennend aktuellen" Thema zu stellen und Graz zum zweiten Mal Schauplatz eines Symposiums über Machtmissbrauch ist. Auch eine Vorlesungsreihe an der Uni Wien und eine Tagung in Frankfurt hätten jüngst unterstrichen, dass kirchlicherseits ernsthaft Aufarbeitung und Prävention betrieben werde. Auch der Grazer Fakultät sei es ein Anliegen, ihre Theologiestudierenden zu sensibilisieren, sagte der Dekan. Früher habe es in Gesellschaft und Kirche viel mehr Autoritarismus gegeben als heute, frühere Tabuzonen würden jetzt betreten, ergänzte Bischof Krautwaschl in seiner Begrüßung. Missbrauch zu verhindern sei ein "Gebot der Stunde".
Es gibt nicht "die richtige" Art zu glauben
Auch der lange Jahre in Rom lehrende Jesuit P. Witwer ortete ein Umdenken: In der Vergangenheit sei die Kirche tendenziell als Machtinstrument gesehen worden, heute besinne sie sich darauf zu dienen statt zu herrschen. Freilich: Quantitative Kriterien wie mögliche Kirchenaustrittszahlen müssten beim Umgang mit Missbrauch in den eigenen Reihen nachrangig sein, sonst würden aus Imagegründen erneut Türen zum Missbrauch geöffnet, warnte der aus Vorarlberg stammende Theologe. Für ihn sind - wie er in seinem Vortrag sagte - auch Sätze wie "Wir werden dich schon noch katholisch machen!" Ausdruck einer zum Missbrauch bereiten Haltung.
Wann ist nun von "geistlichem Missbrauch" zu sprechen? Witwer nannte Aspekte wie den zwanghaften Versuch, andere auf eine bestimmte Glaubenspraxis festzulegen, statt auf spirituelle Angebote und Hilfen zur freien Entscheidung zu setzen. Es gebe nicht "die richtige" Art zu glauben, somit dürften von der eigenen Form abweichende nicht diskreditiert werden. Jede strikte Abgrenzung von anderen im Sinne von "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns" stehe für Missbrauch, so Witwer weiter. Als symptomatisch dafür beschrieb er auch die Bindung einzelner "Auserwählter" an eine Führungsperson, der es "letztlich nur um Machtausübung geht".
Der Jesuit beschrieb geistlichen Missbrauch als Instrumentalisierung der Gottesbeziehung und des Glaubens, mit dem Ziel, andere von sich abhängig zu machen. Der Täter hindere seine Opfer an einer eigenen tiefen Beziehung zu Gott und verbiege deren Gewissen gemäß seinen eigenen Ansichten - oft verbunden mit einem rigiden, Leistung einfordernden Gott. Den setzte Witwer das Jesus-Wort von den Herrschenden entgegen, die ihre Macht über die Menschen missbrauchen: "Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein" (Mk 10,43).
Der "Führer" weiß, was Gott will
Auch der Grazer Moraltheologe Schaupp verwies auf freiheitseinschränkende Facetten von geistlichem Missbrauch wie Kontrolle, emotionalen Druck, Kritikverbot oder - besonders Frauen gegenüber - Demutsforderungen. Das Prinzip: Der religiöse "Führer" weiß, was Gott mit anderen will, und er gibt diesen Willen authentisch wieder. Die Bibel wird dabei oft als Argument missbraucht, so Schaupp. Derartige Phänomene seien jedoch nichts spezifisch Christliches, auch der Buddhismus habe - wenngleich hierzulande wenig beachtet - ein großes Problem mit spirituellem Missbrauch, oft auch in Kombination mit sexuellem. Im kirchlichen Kontext seien evangelikale Gruppierungen mit "elitärem religiösem Anspruch" besonders anfällig, denen die traditionellen Großkirchen als lauwarm und erschlafft erschienen.
Günter Klug, Leiter der Gesellschaft für psychische und soziale Gesundheit "pro mente", spannte den Bogen noch weiter: Missbrauchsgefährdete Organisationen seien solche mit einem "positiven Zweck", der auch öffentlich bekannt sei, die ihren Mitgliedern eine sinnvolle Tätigkeit mit hohem Image böten; klare Hierarchien vermittelten den "Nimbus der Verlässlichkeit und Sicherheit", auch eine lange Tradition und entsprechende Strukturen seien gerade für labile Charaktere anziehend. Und: Verantwortliche hätten viele Freiräume in ihrer Arbeit mit Gruppen oder Einzelnen. All das gilt laut Klug nicht nur für die Kirche, sondern auch für Einrichtungen wie Schule, Universität, Bundesheer, Vereine, Heime oder psychotherapeutische Settings.
Nicht alles ist strafrechtlich fassbar
Gerichts-Präsidentin Caroline List berichtete aus der mittlerweile neunjährigen Tätigkeit der Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft ("Klasnic-Kommission"). Mehr als 2.100 Fälle - meist mehrere Jahrzehnte zurückliegend - seien von ihr und anderen renommierten Fachleuten wie der jetzigen Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein, dem Psychiater Reinhard Haller, Udo Jesionek von der Opferhilfsorganisation "Weißer Ring" oder Ulla Konrad vom Berufsverband Österreichischer Psychologinnen und Psychologen bereits behandelt worden; darunter viele den geistigen Missbrauch betreffend, bei denen strafrechtlich relevante Tatbestände nicht so eindeutig zu klären seien wie bei körperlicher Gewalt oder sexuellen Übergriffen. List berichtete von einem Abt, der nach Anschuldigungen gegen jemand inzwischen Verstorbenen aus seiner Ordensgemeinschaft beim Opfer telefonisch intervenierte - ein Vorgehen, das zwar Druck ausübe, aber nicht strafbar sei.
Ihr sei auch untergekommen, dass manche Opfer als "Sünde" das beim Täter beichten hätten müssen, was ihnen dieser antat, erzählte die Richterin. Geistlicher Missbrauch sei jedoch äußerst vielgestaltig und schwer nachweisbar. List hält - wie sie sagte - das Strafrecht für keine geeignete Reaktion auf geistlichen Missbrauch. Das Verbandsverantwortlichkeitsgesetz nehme Organisationen für ihre Vertreter in die Pflicht und betreffe auch die Kirche - aber nicht für alle Fälle, wie die Richterin sagte. In Bezug auf Verjährung von Missbrauchsfällen erklärte sie, Österreich sei im internationalen Vergleich hier vorbildhaft.
Das Symposium wurde nach dem ersten Block im Universitätszentrum Theologie im LKH-Universitätsklinikum Graz fortgesetzt, es endet am Samstag. Die Organisatoren planen einen zusammenfassenden Tagungsband, wie es hieß.
Quelle: kathpress