Gabriel: Kirche muss in sozialpolitischer Debatte präsenter sein
Die katholische Kirche müsste im europäischen politischen Diskurs zu sozialen, aber auch ökologischen Themen wie auch im Bereich der Menschenrechte viel stärker Position beziehen: Das hat die Wiener Sozialethikerin Prof. Ingeborg Gabriel im "Kathpress"-Interview eingemahnt. Die Kirchen würden hier eine große Chance vergeben, sich in der Öffentlichkeit einzubringen und so auch an Glaubwürdigkeit zu gewinnen, befand die Expertin. Gabriel war sechs Jahre Vizepräsidentin von "Iustitia et Pax Europa", zuletzt zusammen mit dem neu gewählten Präsidenten Bischof Noel Trenor von Belfast. Ihr Mandat endete bei der jüngsten Jahresvollversammlung der kirchlichen Menschenrechtskommission in Bratislava nach zwei Amtsperioden. Gegenüber "Kathpress" zog sie ein Resümee über ihre Tätigkeit.
"Iustitia et Pax Europa" ist das Netzwerk von 31 nationalen "Iustitia et Pax"-Kommissionen in Europa, die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) kirchlicherseits errichtet wurden. Sie setzen sich für Frieden, Gerechtigkeit und die Wahrung der Menschenwürde ein. Ziel ist nach eigenen Angaben zudem ein "vereintes, freies und gerechteres Europa". Der Sitz des Büros ist in Brüssel.
Nationale "Iustitia et Pax"-Kommissionen gibt es in fast allen europäischen Ländern, wobei diese ganz unterschiedlich aufgestellt sind, berichtete Gabriel. Große Kommissionen mit einer beachtlichen Anzahl von Mitarbeitern gibt es beispielsweise in Belgien oder den Niederlanden. Hier liegt der Schwerpunkt auf EZA-Projekten, die vielfach auch staatlich finanziert würden. In anderen Ländern wie Frankreich und Portugal wiederum habe "Iustitia et Pax" eher "Think-Tank-Charakter", teils mit einem beachtlichen Output an Stellungnahmen und öffentlich anerkannten Persönlichkeiten.
Prof. Gabriel - sie hat den Lehrstuhl für Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien inne - wünscht sich von der Kirche eine stärkere Außenorientierung in ihren Aktivitäten. Diese könnten unterschiedlicher Art sein, vielfach werde es darum gehen, "dass die Kirche noch stärker an die Ränder geht, wie dies auch der Papst einfordert". Dadurch könnte auch der Brückenschlag "zur weitgehend säkularen Gesellschaft gelingen, um das humane gesellschaftliche Potenzial zu stärken, das in der Gesellschaft noch immer vorhanden ist". Ebenso gelte es, den Brückenschlag mit anderen Religionen in ethischen Fragen zu suchen. "Das Christentum hat hier eine unverzichtbare Rolle, weil es von seinem eigenen religiösen Gehalt her Verständnis für die Bedeutung religiöser Motivationen hat." Das würde auch der Schärfung des eigenen Profils dienen, "denn sobald man hinausgeht, stärkt das den eigenen Glauben mehr, als wenn man sich nur im Binnenbereich aufhält."
Bestärkt durch die Amazonien-Synode werde sich auch "Iustitia et Pax Europa" in den kommenden Jahren vor allem ökologischen Themen widmen, "wobei längst klar ist, dass ökologische und soziale Themen zusammengehören und einander bedingen".
Suche nach europäischem Ausgleich
In einem gesamteuropäischen Rundumblick konstatierte Gabriel einerseits einen kirchlichen Konsens bei sozialen Themen oder Menschenrechten, freilich gebe es auch unterschiedliche Positionen, etwa im Bereich der Migration. Hier verliefen die Trennlinien allerdings weniger entlang nationaler Grenzen als vielmehr auch quer durch einzelne Bischofskonferenzen.
Einige grundlegende Unterschiede zwischen den Kirchen in Ost- und Westeuropa ließen sich aber nicht leugnen, formulierte Gabriel vorsichtig. So herrsche in den ehemals kommunistischen Ländern immer noch das Gefühl vor, "in der Geschichte zu kurz gekommen zu sein und nicht genügend ernst genommen zu werden". Nachsatz: "Was teils auch stimmt." "Iustitia et Pax Europa" habe dem stets entgegenzuwirken versucht "und die neuen Länder in die Strukturen eingebunden, wo immer die nationalen Bischofskonferenzen dazu bereit waren", so Gabriel.
Faktum sei, dass die soziale Situation für viele Menschen in den ehemals kommunistischen Ländern aber immer noch schlechter sei, vor allem für jene, die auf staatliche Transferleistungen (Pensionen etc.) angewiesen sind. "Iustitia et Pax" habe dies auch ihm Rahmen der eigenen Möglichkeiten thematisiert. "Da gibt es reale Probleme, die auch den Nationalismus anheizen", warnte Prof. Gabriel.
Der zunehmende Nationalismus in vielen Ländern Europas bereitet der Wiener Sozialethikerin große Sorgen, wobei auch die nationalen Kirchen davor nicht gefeit seien. Einfache Erklärungen für diese Entwicklung gebe es nicht, Gabriel verwies aber u.a. auf eine "neue Wellen der Säkularisierung in Europa", die auf "unterschwellige antimoderne Affekt in der katholischen Kirche" trifft. So positiv zudem Tradition und Geschichte grundsätzlich auch behaftet sind, bestehe doch auch die Gefahr, dass sie für nationalistische Zwecke missbraucht werden könnten.
Polarisierungen überwinden
Auf die zunehmenden Polarisierungen im politischen aber auch generell gesellschaftlichen Diskurs angesprochen, verwies die Ethikerin auf eine Maxime des Thomas von Aquin (1225-1274):
Bevor man jemanden kritisiert, muss man dessen Position besser darzustellen, als er dies selbst könnte.
In den gegenwärtigen Debatten werde der Position des Gegenüber hingegen vielfach kein Wahrheitsgehalt zugebilligt, "denn wenn ich ihm auch nur ein wenig Wahrheit zuerkenne, dann bin ich eigentlich schon ein Verräter an der eigenen Sache", so die Meinung vieler. Doch so funktioniere die Welt nicht:
Den Wahrheitsgehalt in der Position des politisch oder religiös Andersdenkenden anzuerkennen, so unsympathisch er mir auch sein mag, stärkt die eigene Position.
Die christlichen Kirchen könnten und sollten hier Foren bieten, "wo sich unterschiedliche Akteure zu einzelnen Themen austauschen. Wir haben das in 'Iustitia et pax Österreich' mit Erfolg praktiziert", so die Ethikerin.
Menschenrechte nicht teilbar
Prof. Gabriel ist nach dem Ende ihrer Funktionsperiode für "Iustitia et pax" noch OSZE-Sonderbeauftragte im Kampf gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung, mit Fokus auf Christen und Angehörige anderer Religionen. Der Einsatz für Religionsfreiheit werde immer wichtiger, so die Sozialethikerin. Sie halte in diesem Zusammenhang aber den Begriff der "Christenverfolgung" für ungünstig und spreche lieber von "Verletzungen der Menschenrechte von Christen". Diese Terminologie schaffe eine stärkere Verbindung zum Völkerrecht, so die Expertin. Sich für das allgemeine Recht auf Religionsfreiheit einzusetzen, sei zudem "der effektivste Weg, sich für die Rechte der Christen, insbesondere der christlichen Minderheiten, einzusetzen".
Gabriel warnte dabei vor einer Entwicklung, dass die Menschenrechte nur mehr selektiv wahrgenommen werden. Würden eher konservative Kreise etwa die Religionsfreiheit im Fokus haben, gehe es Liberalen beispielsweise mehr um die Rechte von Homosexuellen. "Der Menschenrechtediskurs bricht tendenziell auseinander", so der Befund Gabriels. Menschenrechte ließen sich aber nicht beliebig teilen bzw. anwenden. Wer sich nur für bestimmte Rechte einsetzt, höhle damit das Konzept der Menschenrechte in seiner Gesamtheit aus, "auch wenn das den Proponenten oft nicht bewusst ist".
Fragile Demokratie
Auf den "Brexit" angesprochen, sprach Gabriel von einem "tiefen Schock" bei Freunden in Großbritannien wie auch europaweit. Jedenfalls zeigten die Ereignisse, "wie fragil die Demokratie ist". Wer die Debatten im britischen Parlament mitverfolge, könne wohl nicht anders als von einem "Realitätsverlust" zu sprechen, da parteipolitische Interessen und Strategien völlig dominierten. Nachsatz: "Das Tragische ist, dass das wohl überall passieren kann."
Prof. Gabriel wird am 9. Dezember an einer Podiumsdiskussion in Wien zum Thema "Menschenrechte als Zankapfel? Zwischen globalem Anspruch und partikulärer Verwirklichung" teilnehmen. Mit ihr diskutieren Michael L. Fremuth vom Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte, der Historiker Wolfgang Schmale und Ebrahim Afsah, Professor für Rechtswesen und Ethik im Islam an der Universität Wien. (9. Dezember, 18 Uhr, Sitzungssaal des Dekanats der Kath.-Theolog. Fakultät, Universitätsring 1)
Quelle: kathpress