Missbrauch: Zulehner sieht ganze Gesellschaft in der Pflicht
Missbrauch ist nicht nur eine Herausforderung für die Kirche, sondern für die gesamte Gesellschaft. Das betont der Wiener Pastoraltheologe em.Prof. Paul Zulehner in einer neuen Online-Studie, die sich unter anderem mit dem Problem des Missbrauchs beschäftigt. Die letzte Ursache für Missbrauch liege demnach darin, "dass in den Familien sowie in der diese umgebenden Kultur zu viele Männer erotisch wie sexuell unreif aufwachsen", so Zulehner. Es kämen dann aber strukturelle Momente im Kirchensystem dazu, "die das dann noch verschärfen". So hinterfragt der Theologe u.a. das "System Priesterseminar", ein überhöhtes Priesterbild oder auch den Pflichtzölibat. Seine zentralen Punkte stellte er auch in einer Online-Umfrage zur Abstimmung.
Zulehner geht in seiner Missbrauchsstudie, die Teil einer umfassenderen Studie ist, die erst im kommenden Frühjahr veröffentlicht wird, auf diese Faktoren von Familie und Sexualkultur näher ein, bevor er dann die einzelnen - Missbrauch begünstigenden - Aspekte beleuchtet. Er geht grundsätzlich davon aus, dass die Täter - jene in kirchlichen wie außerkirchlichen Einrichtungen - aus ganz normalen Familien stammen. Und diese Ursprungsfamilien seien wiederum eingebunden in eine bestimmte gesellschaftliche Sexualkultur.
Es könne demnach durchaus sein, so Zulehner, dass die kirchlichen restriktiven Sexualnormen zu unreifer und neurotisierter Sexualität führten, doch sei der Einfluss der Kirche gerade im Hinblick auf die Sexualkultur inzwischen gesellschaftlich völlig bedeutungslos. So stelle sich die Frage "ob die "Befreiung der Liebe", wie sie seit den 1968ern stattgefunden hat, tatsächlich zum besseren Gelingen der erotisch-sexuellen Reifung geführt habe. Zulehner:
Hätte dann nicht der verbreitete Missbrauch von Kindern aufhören müssen? Ist er nicht im Gegenteil angestiegen und unverfrorener, im Internet sogar kommerzialisiert geworden?
Die Sexualkultur, die sich nach der "sexuellen Revolution" ohne Mitwirkung der Kirche ausgebildet hat, habe den Missbrauch offenkundig nicht vermindert; und dies nicht nur nicht in der Kirche, sondern auch nicht in der Gesellschaft.
So stellt Zulehner die Frage:
Könnte es also sein, dass es der 'modernen' Kultur ebenso wenig wie der 'vormodernen' gelingt zu erreichen, dass Männer erotisch-sexuell derart heranreifen, dass sie ihre Sexualität in verantwortlicher Weise in Beziehungen unter Erwachsenen leben und sich folglich nicht missbräuchlich des 'Autoritätsgefälles' zu anvertrauten Kindern bedienen 'müssen'?
Manche klopfen an ein Priesterseminar
Tatsache sei, "dass es auch heute nicht wenige, ja zu viele Männer gibt, deren erotisch-sexuelle Reifung nicht ausreichend gelingt". Diese würden heiraten, gingen in pädagogische Einrichtungen in der Gesellschaft; aber es bestehe auch die Möglichkeit, "dass sie an die Tore eines Priesterseminars klopfen".
Manche Fachleute würden befürchten, so der Theologe, dass der Anteil von "unreifen Bewerbern" unter den Kandidaten für das Priesteramt heute größer sei als früher. Die Verpflichtung zum Zölibat erweise sich als negativer Auslesefaktor. Reife Personen seien mit höherer Wahrscheinlichkeit als in früheren Generationen heute längst in erotisch-sexuellen Beziehungen derart erfahren, dass sie die ehelose Lebensform für sich ausschließen. Einige von ihnen wählten dann die Berufslaufbahn eines Pastoralassistenten oder würden Diakon. Andere suchten sich einen Beruf außerhalb der Kirche.
Die Verantwortlichen für die Aufnahme von Kandidaten in Priesterseminare sowie in Ordensgemeinschaften seien schon geraume Zeit bemüht, "auffällige Persönlichkeiten" auszusondern, anerkennt Zulehner. Der notorische Mangel an Kandidaten habe allerdings in den letzten Jahren bei Ordensgemeinschaften wie Priesterseminaren zur Absenkung der Eingangsschwelle geführt. Damit werde auch die Hoffnung verbunden, "dass es ja vor der Weihe noch einmal eine abschließende Bewertung der Reife einer Persönlichkeit kommt". Zudem bestehe Zuversicht, dass es auch während der Ausbild
ungszeit im wünschenswerten Normalfall noch zu Reifungsprozessen kommen könne. Eine Zuversicht, die allerdings von Fachleuten gedämpft werde. In aller Schärfe stelle sich so die Frage, ob das "System Priesterseminar" nicht strukturell ein Entwicklungshindernis für erotisch-sexuelle Reifung darstellen kann, so der Theologe:
Es sind hier nur Männer unter sich. Männerfreundschaften können sich ausbilden. Für homoerotisch begabte Kandidaten ist das ein idealer Lebensraum. Aber für heterosexuell Orientierte?
"Auf beide Lebensformen vorbereiten"
Zulehner zeigt eine deutliche Präferenz für die Überlegung, Priesterseminare in eine Art christlicher Basisgemeinschaft umzuformen, in der (junge) Frauen und Männer gemeinsam leben, die Bibel lesen, Eucharistie feiern und diakonale Projekte machen, meditieren und studieren. Es wäre in solchen Basisgemeinschaften auch möglich, in einem Feld der Offenheit sich "freier" weil erfahrungsgedeckter für die Ehelosigkeit, aber auch für eine Ehe zu entscheiden. "Die Kirche ist gut beraten, auf beide Lebensformen vorzubereiten", so der Theologe. Die Ehefähigkeit der Priesteramtskandidaten sei daher auch die beste Vorsorge dafür, dass heute die ehelose Lebensform "im Frieden" gelebt werden kann.
Wichtig für all diese Überlegungen sei die Annahme, "dass nicht der Zölibat als solcher die Ursache für den Missbrauch darstellt". Wäre dies der Fall, dann würde das Hauptfeld des Missbrauchs in der Gesellschaft nicht in den Familien liegen. Vielmehr werde klar, "dass es die erotisch-sexuelle Unreife ist, mit der ein Kandidat in die zölibatäre Lebensform eintritt".
Aber so sehr die ehelose Lebensform keine Missbrauchsursache darstellt: Sie könne durchaus von Personen, die in ihrer Unreife vor personalen Beziehung mit integriertem Eros und Sexualität Angst haben und dazu auch nicht fähig sind, als "Schutzort" angesehen werden. Zulehner: Die zölibatäre Lebensform kann somit insofern Missbrauch begünstigen, als es Personen in ihrer Unreife festhält." Eine Chance zur Entwicklung stelle sich von Haus aus nicht ein.
Da unreife Personen ihre erotisch-sexuellen Bedürfnisse nicht "auf gleicher Augenhöhe" in "reifen Beziehungen" unter Erwachsenen kultivieren können, würden sie diese Bedürfnisse auf Kinder richten, "die ihrerseits nach Liebe und Zärtlichkeit verlangen und daher für Missbrauch offener sind als erwachsene Partnerinnen (und manchmal auch Partner)".
"Heidnisches Priesterverständnis"
Ein weiteres Probleme, das Missbrauch begünstigen kann: ein überhöhtes Priesterbild. Die archaische Überhöhung des Priesters in einen "heiligen Bereich" begünstige bei Personen mit Selbstzweifeln und geringer Selbsteinschätzung die Ausübung von Macht gegen Schwächere. Der Kampf gegen den Missbrauch von Kindern müsse daher mit der Enthöhung des Priesterbildes einhergehen, sowohl in der Theologie als auch im bei den Gläubigen. Denn: "Dieses erhöhte Priesterbild wurde in Theologie und Spiritualität entfaltet und wurde (wird?) den Priesteramtskandidaten angepriesen." Zugleich werde es aber auch "in Primizen vom Kirchenvolk gefeiert und verinnerlicht".
Religionswissenschaftliche Gründe zeigten, dass diese Überhöhung nicht nur aus einer schlechten Amtstheologie kommt, sondern einem archaisch-religiösen Bedürfnis vieler Menschen entspreche, so der Pastoraltheologe. Er spricht von einem eigentlich "heidnischen" Priesterverständnis.
Supervision und Screening
Zulehner spricht in der Studie eine Reihe von präventiven Maßnahmen gegen Missbrauch an, für die die Zustimmung in der Befragung durchaus gewichtet ist. Der "Nichtaufnahme unreifer Personen vor dem Eintritt in Seminaren und Ordensgemeinschaften" stimmen beispielsweise 89 Prozent zu, die "Überwindung eines überhöhten Priesterbildes" ist für 87 Prozent höchst notwendig. Der Pflicht zur Supervision bei Personen, die in der Kirche mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, stimmen 82 Prozent zu, der Freistellung des Zölibats 81 Prozent. Vor der Weihe noch ein psychologische Screening befürworten immerhin noch 69 Prozent, ebenso wie den Umbau von Priesterseminaren zu Wohngemeinschaften.
Deutlich werde jedenfalls, so Zulehner, "dass Missbrauch nicht nur eine innerkirchliche, sondern zugleich immer auch eine soziokulturelle Herausforderung ist".
Für die Studie wurden tausend Personen befragt, mit und ohne Kirchenbindung. Zulehner: "Die Befragung ist nicht streng wissenschaftlich repräsentativ aber doch sehr aussagekräftig. Es sei ihm wichtig, in der gesamten Missbrauchsthematik auch einmal die Bevölkerung in ihrer ganzen Breite zu Wort kommen zu lassen. Die Studie werde den Untertitel "Pastoraltheologie von unten" tragen. Den Missbrauchsteil hat der Theologe bereits auf seinem Blog veröffentlicht. (https://zulehner.wordpress.com/)
Quelle: kathpress