Schönborn und Wagner über Missbrauch: Selbstbestimmung stärken
Die beste Prävention gegen sowohl sexuellen als auch geistlichen Missbrauch ist eine bewusste Erziehung und Begleitung, die den Selbststand des Menschen stärkt: Das ist die übereinstimmende Einschätzung von Kardinal Christoph Schönborn und der früheren Ordensfrau Doris Wagner (Reisinger) bei ihrem vierstündigen TV-Gespräch, das ungekürzt als Buch unter dem Titel "Schuld und Verantwortung" im "Herder"-Verlag erschienen und seit Freitag in Österreich im Buchhandel verfügbar ist. Es enthält ausführliche Passagen über die latente Gefahr des geistlichen Missbrauchs im kirchlichen Bereich, welche in der Anfang Februar im Bayerischen und dann im Österreichischen Rundfunk gesendeten 45-minütigen Doku auszugsweise gebracht wurden.
Doris Wagner hatte schon zuvor mit dem ebenfalls bei "Herder" erschienenen Buch "Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche" das Thema einer breiteren Öffentlichkeit vermittelt und aufgezeigt, inwieweit Ordensfrauen davon besonders gefährdet sind. Dieses und Wagners erstes Buch "Nicht mehr ich" hätten den Kardinal nach eigenen Angaben "sehr beeindruckt", weil darin "keine Spur von Hass oder von Aggressivität" sei und weil es dabei immer um die Menschen in der Kirche gehe und um Wege der Therapie. Wagner habe durch ihre Bücher einen "Dienst" geleistet und auch das jetzt öffentliche TV-Gespräch zwischen beiden wolle ein Dienst sein: "Schmerzhaft, aber heilsam", so Schönborn.
"Ich glaube Ihnen"
Vor diesem Hintergrund sei die Initiative für das TV-Gespräch von Kardinal Schönborn ausgegangen, wie auch der dabei Regie führende Stefan Meining im Vorwort zum Buch ausführlich schildert. Und so beginnt das auf über hundert Seiten nun nachzulesende vierstündige Gespräch des Wiener Erzbischofs mit der ehemaligen Ordensfrau nicht nur mit viel wechselseitiger Wertschätzung. Schon nach kurzer Zeit hält Schönborn von sich aus gegenüber Wagner fest: "Ihre Geschichte habe ich von Anfang an geglaubt." Gegen Ende des Gesprächs ereignete sich die für viele Zuseher dann zentrale Sequenz in der TV-Doku: Nachdem Wagner gesagt hatte, dass sie von niemandem aus ihrer ehemaligen Gemeinschaft den Satz gehört habe: "Wir glauben Dir - und das hätte dir nicht passieren dürfen!" fragte sie Kardinal Schönborn explizit: "Könnten Sie mir das sagen?" und dieser antwortete: "Ich glaube ihnen, ja."
Das im Buch nachlesbare Gespräch zwischen zwei Personen auf Augenhöhe gewährt auch einen tiefen Einblick in die unterschiedliche Biographie des Ordenspriesters Schönborn und der ehemaligen Ordensfrau Wagner, die nach Austritt aus dem "Werk" und Heirat jetzt Reisinger heißt. Mit ihrem Eintritt in die erst vor einigen Jahrzehnten gegründete "geistliche Gemeinschaft" begann ein Leben, das "viel Schönes und Tragendes" genauso bot wie niedrige Dienste und "von Anfang an kleine Gesten der Demütigung". Zur radikalen Wende und Glaubenskrise wurde schließlich ein sexuelles Verhältnis mit einem Priester der Gemeinschaft, das für Wagner wörtlich eine "Vergewaltigung" war. Sie verließ schließlich die Gemeinschaft. Ihr Buch über diese Ereignisse waren ausschlaggebend für die dann folgende Apostolische Visitation der Ordensgemeinschaft.
Selbsterniedrigung und Selbstbestimmung
Ganz anders waren die Erfahrungen Schönborns, der als junger Mann in den Dominikanerorden und somit in einen der ältesten Männerorden der Kirche eintrat. "Ich kann heute sagen, dass ich in einen freiheitsliebenden Orden eingetreten bin und Selbstbestimmung ein starkes Moment meiner Erfahrung im Orden war", so der Kardinal. Anders als Wagner musste Schönborn nicht regelmäßig Berichte für Obere schreiben, Rechenschaft ablegen und zum vorgeschriebenen Beichtvater gehen. Als Beispiel für das hohe Maß an Respekt vor der Freiheit in der geistlichen Begleitung erzählte Schönborn, dass er auf eigenen Wunsch ab 1968 vier Jahre lang von einem älteren Mitbruder, der ein ausgewiesener Theologe war, geistlich begleitet wurde. Der große Thomas von Aquin-Kenner hätte dies jedoch unter der Bedingung gemacht, dass Schönborn jederzeit ohne Angabe von Gründen diese Begleitung abbrechen könne, dafür aber wöchentlich kommen müsse. "Da war kein Paternalismus, sondern ein tiefer Respekt vor der Freiheit des anderen. Genau so stelle ich mir geistliche Begleitung vor", so der Kardinal im Rückblick.
Wie die von Jesus selbst vorgelebte und zugemutete Selbsterniedrigung mit der nötigen Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen zusammengehen kann, wurde am Ende des Gesprächs nochmals von beiden vertieft. Wie seien die Worte Jesus "Wer nicht sich selbst verleugnet, sein Kreuz aufnimmt und mir nachfolgt, kann nicht mein Jünger sein" und "Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden" zu verstehen, so Schönborn an Wagner. "Auch Kreuzesnachfolge muss selbstbestimmt erfolgen. Kreuzesnachfolge und Selbstbestimmung sind kein Widerspuch", antwortet Wagner, die dabei exemplarisch auf ihre Erfahrung als Mutter verweist, wo es oft nötig sei, sich aus Liebe zum Kind selbst zurückzunehmen. Es gebe aber klare Grenzen:
Niemand darf dieses Ideal der Selbstverleugnung benutzen, um mich zu zerstören oder mir Leid zuzufügen.
Schönborn unterstreicht in dem Gespräch, das noch vor dem späteren vatikanischen Kinderschutzgipfel (21.-24. Februar) stattgefunden hatte, dass es Strukturen und Systeme in der Kirche gibt, die Missbrauch begünstigten. Dabei gehe es vor allem um ein Machtungleichgewicht, eine "Dynamik des Schweigens" und ein nicht selten übersteigertes Priesterbild, welches die Gefahr des "Autoritarismus" berge. "In so einem System kann es gar nicht nicht zu Missbräuchen kommen, denn die ganze Struktur ist missbräuchlich", hält die ehemalige Ordensfrau Wagner in diesem Zusammenhang fest und macht dabei auch nicht halt vor dem Papstamt, das sie als "gefährlich" bezeichnet:
Denn der Papst ist in seiner Stellung nicht angreifbar, weil er einfach der absolute Monarch und der oberste Gesetzesgeber ist, der von keinem anderen Menschen zur Verantwortung gezogen werden könnte.
Das Gespräch zwischen den beiden geht weit über die Missbrauchsthematik hinaus. So werden auch Fragen rund um die Priesterweihe für Frauen, die Abschaffung des Zölibats, die Akzeptanz wiederverheirateter Geschiedener oder Homosexueller sowie um die kirchliche Sexualmoral behandelt. "Ich glaube es war ein echter Dialog, kein Aneinander-Vorbeireden", urteilte der Kardinal nach Erscheinen des Buches auf seiner Facebook-Seite.
Das Buch mit dem Titel "Schuld und Verantwortung. Ein Gespräch über Macht und Missbrauch" (ISBN-13: 978-3-451-39526-0) hat 128 Seiten und kostet 16,50 Euro.
Quelle: kathpress