Kämpferin gegen soziale Armut
"Sozialpionierin", "Anwältin der Unterdrückten und Entrechteten", "Kämpferin gegen soziale Armut und für Gleichberechtigung": Hildegard Burjan war eine der großen Gestalten der christlichen Frauenbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie wird am 30. Jänner 1883 als zweite Tochter des liberalen, jüdischen Ehepaares Abraham und Berta Freund in Görlitz an der Neisse geboren. Die Eltern sind wenig religiös, Hildegard beginnt trotzdem früh, sich für den Glauben zu interessieren. Tagebuchaufzeichnungen zeugen davon. Berufliche Gründe führen die Familie 1895 nach Berlin und 1899 in die Schweiz.
Nach der Matura beginnt Hildegard ein Studium der Germanistik in Zürich und besucht auch Philosophie-Vorlesungen. Über den Philosophen Robert Saitschik und den Friedensforscher Friedrich Foerster kommt sie mit christlichem Gedankengut in Kontakt. Während der Studienzeit lernt sie den Technikstudenten Alexander Burjan kennen. Er ist Ungar und ebenfalls jüdischer Abstammung. Am 2. Mai 1907 heiratet das Paar und übersiedelt nach Berlin.
Dann kommt es zu einem einschneidenden Erlebnis. Am 9. Oktober 1908 wird Hildegard mit einer Nierenkolik in das katholische St. Hedwig-Spital in Berlin eingeliefert. Ihr Zustand verschlechtert sich zusehends, sie muss mehrmals operiert werden. In der Karwoche 1909 ist sie dem Tode nah. Die Ärzte raten ihrem Ehemann, sich zu verabschieden. Doch wie durch ein Wunder sinkt am nächsten Tag das Fieber. Burjans Zustand bessert sich zusehends, die offene Wunde beginnt zu heilen. Schließlich wird sie aus dem Krankenhaus entlassen; an den Folgen der Krankheit leidet sie freilich ein Leben lang.
Krankheit und Heilung sind ein Wendepunkt im Leben der jungen Frau. Sie findet endgültig zum christlichen Glauben. Mitunter ein Vorbild sind ihr sicherlich die Ordensschwestern - Borromäerinnen -, die sie im Spital gepflegt haben. Am 11. August 1909 empfängt Hildegard die Taufe.
Noch im selben Jahr übersiedelt das Ehepaar Burjan nach Wien, wo Ehemann Alexander eine leitende Position erhält. Hier findet Hildegard bald Anschluss an katholische Kreise, die sich auch mit der ersten Sozialenzyklika "Rerum Novarum" (1891) von Papst Leo XII. auseinandersetzen.
Hildegard wird schwanger, was für ihre angegriffene Gesundheit Lebensgefahr bedeutet. Eine Abtreibung lehnt sie ab. Am 27. August 1910 kommt ihre Tochter Elisabeth zur Welt.
Ihr soziales Engagement verstärkt sich. Sie versucht, ihren Aufgaben als Mutter gleichermaßen wie den öffentlichen gerecht zu werden. Alexander erreicht die Position eines Generaldirektors in einem großen Unternehmen, Hildegards Name wird durch ihre Tätigkeit in der Öffentlichkeit ein Begriff. In ihr verbinden sich zwei Welten: Hildegard als Ehefrau eines Generaldirektors und Hildegard als Anwältin der Unterdrückten und Entrechtete".
"Heimarbeiterinnenmutter von Wien"
Ausgangspunkt und Motivation für ihr Handeln ist für Hildegard Burjan ihre tiefe Gottverbundenheit. Seit ihrer Ankunft in Wien 1910 beginnt sie sich mit der "Sozialen Frage" zu beschäftigen. So kümmert sie sich um Heimarbeiterinnen, die einzeln dem Druck und der Willkür von Fabrikanten ausgeliefert sind. Hildegard macht sie auf ihre Rechte aufmerksam, gründet am 13. Dezember 1912 den "Verein der christlichen Heimarbeiterinnen". Sie organisiert für die Frauen u. a. Großaufträge, schaltet damit Zwischenhändler aus und erreicht dadurch bessere Löhne. Nach einem Vortrag im April 1914 im Zuge des "2. Österreichischen Katholischen Frauentags" wird sie zur "Heimarbeiterinnenmutter von Wien" proklamiert.
Auch im Zuge des Ersten Weltkriegs kümmert sich Hildegard um die Frauen, richtet u. a. Nähstuben und zentrale Arbeitsbeschaffungsstellen ein und stellt 1917 eine Hilfsaktion für die Not leidende Bevölkerung des Erzgebirges auf die Beine. Hildegard setzt sich auch mit der Situation der Frauen nach dem Krieg - in einer neuen Staatsform - auseinander. Bei einem Vortrag vor christlichen Arbeiterinnen 1917 weist Hildegard auf die veränderte Position der Frauen hin, weil diese im Krieg "ihren Mann" stehen hätten müssen. Hildegard fordert: gleicher Lohn für gleiche Leistung.
"Das Gewissen des Parlaments"
Schließlich wird die Christlich-Soziale Partei auf Hildegard Burjan aufmerksam. Nach der neuen Wahlordnung, mit der auch Frauen das aktive und passive Wahlrecht erhalten, zieht sie am 3. Dezember 1918 in den Wiener Gemeinderat ein und wird Stellvertreterin des Obmannes der Christlich-Sozialen Partei, Leopold Kunschak.
Sie ist auch Kandidatin für die ersten Wahlen der neuen Republik zur "konstituierenden deutschösterreichischen Nationalversammlung": Als einzige Frau unter den Christlich-Sozialen Abgeordneten steht sie am 12. März 1919 zum ersten Mal am Rednerpult im Parlament.
Der damalige Wiener Erzbischof, Kardinal Friedrich Gustav Piffl, nennt Hildegard "das Gewissen des Parlaments". Um ihr wichtige soziale Anliegen voranzutreiben arbeitet Burjan auch mit den Sozialdemokratinnen im Parlament zusammen.
Während ihrer knapp zweijährigen parlamentarischen Tätigkeit setzt Hildegard Burjan viele Initiativen: So stellt sie z. B. Anträge auf Ausweitung des staatlichen Mutter- und Säuglingsschutzes, fordert die Anstellung von "Hauspflegerinnen" für Wöchnerinnen durch die Krankenkasse und die Gleichstellung von Mann und Frau im Staatsdienst. Wesentliches Verdienst ist die Verabschiedung eines "Hausgehilfinnengesetzes".
Aufgrund des wachsenden Antisemitismus auch innerhalb der eigenen Partei steht Hildegard bei den Neuwahlen 1920 nicht mehr als Kandidatin zur Verfügung. Sie zieht sich aus der Politik zurück.
Anfänge der "Caritas Socialis"
1919 gründet Burjan die Schwesterngemeinschaft "Caritas Socialis" (CS), der sie - als verheiratete Frau - auch bis an ihr Lebensende vorsteht. Die Schwestern legen bei Aufnahme das Versprechen ab, nach den Evangelischen Räten in Gehorsam, Armut und Ehelosigkeit zu leben. Die Gemeinschaft findet rasch Zuspruch. Ab 1926 wird die Schwesterngemeinschaft auch im Ausland aktiv.
Die Anforderungen zehren aber an Hildegards Kräften. Zur Nierenerkrankung kommt Diabetes hinzu. Bereits vom Tod gezeichnet beginnt Hildegard den Bau einer Kirche in Wien-Neufünfhaus in die Wege zu leiten. "Es war ihr wichtig, dass die Kirche in einem Arbeiterviertel gegründet wird und die Menschen erleben, dass der Glaube mit einer tatsächlichen Verbesserung der sozialen Umstände zu tun hat.
Die Grundsteinlegung erlebt sie nicht mehr: Hildegard stirbt mit nur 50 Jahren am 11. Juni 1933, dem Dreifaltigkeitssonntag - für Burjan stets ein wichtiges Kirchenfest.
Drei Jahre nach Hildegard Burjans Tod wird die "Caritas Socialis" als "Gemeinschaft diözesanen Rechts" errichtet und 1960 unter Papst Paul VI. zur "Gemeinschaft päpstlichen Rechts" erklärt. Am 6. Juni 1963 wird das Seligsprechungsverfahren für Hildegard Burjan eingeleitet. Am 29. Jänner 2012 wurde sie im Wiener Stephansdom seliggesprochen.
Quelle: kathpress