Theologe: Warnung vor Verlust religiöser "Ambiguitätstoleranz"
Einen gesellschaftlichen Großtrend zum Verlust von "Ambiguitätstoleranz" - also der Fähigkeit, Differenzen und Pluralität als bereichernde Vielfalt zu verstehen - hat der Münsteraner Theologe und Islamwissenschaftler Prof. Thomas Bauer konstatiert. Dieser Trend zeige sich auf verschiedenen gesellschaftlichen Feldern wie etwa der Politik, der Kultur, im Alltag - aber auch in der Religion. Dabei sei gerade die Religion ein Ort der Ambiguität und des permanenten Aushandelns und Aushaltens verschiedener Positionen, betonte Bauer bei einem Vortrag im Rahmen der "Salzburger Hochschulwochen" am Mittwoch.
Die Deutungsoffenheit heiliger Texte, die "Zumutung der Transzendenz" sowie die "Liebe zur Paradoxie" seien Beispiele religiöser Ambiguitätstoleranz - ihre Zurückdrängung hingegen sei fatal.
Toleranz der Vielfalt und Deutungsoffenheit gegenüber ist Voraussetzung für das Gedeihen von Religion insgesamt.
Der Verlust dieser Toleranz stelle für die etablierten Religionen ein viel folgenschwereres Problem für die Glaubwürdigkeit der Religionen dar, als andere strukturelle Missstände.
Historisch lasse sich der Rückgang an Ambiguitätstoleranz in den Religionen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts festmachen, führte Bauer weiter aus. Dies gelte für die Auslegung des Korans ebenso wie für die Ausprägung des römischen Katholizismus. So habe der Koran traditionell eine Deutungsvielfalt in der islamischen Tradition und Theologie gekannt - wirtschaftliche und kolonialistische Bedrohungen der islamischen Welt ab der Mitte des 19. Jahrhunderts hätten dann als Reaktion u.a. eine Verfestigung religiöser Positionen als Identitätsmarker hervorgebracht. Dies wirke bis heute nach, wenn die islamische Lehre auf einer "vermeintlichen Eindeutigkeit bei der Deutung des Koran" beharre.
In der christlichen Tradition lasse sich die Spur des Verlustes der Ambiguitätstoleranz noch weiter bis in die Zeit der Reformation zurück verfolgen: So könne man schließlich auch Luthers Wort auf dem Reichstag zu Worms 1521 - "Hier stehe ich! Ich kann nicht anders" - als schroffe Absage an die Ambiguitätstoleranz und die Wertschätzung anderer Positionen lesen.
Folgenschwer sei der Verlust von Ambiguitätstoleranz in zwei Richtungen, führte Bauer aus: Zum einen lauere ein Beharren auf vermeintlicher Eindeutigkeit, was wiederum in Autoritarismus und Fundamentalismus führen könne und sich für Populismus anfällig zeige; zum anderen lauere ein Absinken in die Bedeutungslosigkeit und Gleichgültigkeit, wo Vielfalt als banale Gleichmacherei missverstanden werde. Beiden Extremen gelte es in Politik ebenso wie in der Religion auszuweichen.
Die "Salzburger Hochschulwochen" stehen heuer unter dem Titel "Die Komplexität der Welt und die Sehnsucht nach Einfachheit". Noch bis 4. August locken die Hochschulwochen mit Vorträgen, Podiumsdiskussionen und einem umfangreichen Kulturprogramm zu einer "smarten Sommerfrische" in der Mozartstadt. (Infos: www.salzburger-hochschulwochen.at)
Quelle: kathpress