Europa braucht seelische Aufrüstung
Um das Verhältnis von Heimat und Fremde drehen sich die fünften Europäischen Toleranzgespräche in Fresach, die am Donnerstag offiziell gestartet sind. Bis Samstag wird unter dem Leitmotto "Heimat Fremde Erde" in dem Kärntner Bergdorf von rund 40 Wissenschaftlern, Dichtern und Denkern die Frage gestellt: "Wem gehört Europa?" Laut Diözesanadministrator Engelbert Guggenberger fordere diese Frage künftig vor allem in Europas Gesellschaften zu Verzicht und auch zur Begegnung mit dem Fremden heraus, "denn wir werden Dinge teilen und aufeinander zugehen müssen".
Als Vorbedingung für das Gelingen eines solchen Verzichtes nannte Guggenberger eine "seelische Aufrüstung", die vor allem von Religion und Spiritualität gespeist werde. Diese Ressourcen gelte es zu wahren, "damit die Gesellschaft auch in Zukunft in Frieden diesen Weg gehen kann". Gleichzeitig appellierte der Vertreter der katholischen Kirche an die Teilnehmer, in Religion nicht zuerst einen Kriegstreiber zu sehen.
Der evangelische Superintendent Manfred Sauer ermutigte die Anwesenden an einem Europa zu arbeiten, das einem offenen Haus des Denkens, des Streitens und des Ringens gleiche. "Europa als offenes Haus ohne Grenzen, nationale Hinterzimmer oder Maschendrahtzäunen zu denken, ist ein schöner Traum", unterstrich Sauer. Die Toleranzgespräche seien ein Ort, "an dem wir träumen, uns das Unmögliche vorstellen, wagen und ausprobieren sollen. Wir brauchen die Träumer, die Visionäre, die Querdenker, die Wortklauber und die Wortschöpfer. Wir brauchen Inspiration, Irritation und immer wieder die Kraft, die die Fenster und Türen unseres Zauderns und Zweifelns aufstoßen."
"Öffnung und Vermischung"
In der Eröffnungsrede der Toleranzgespräche legte der Sprach- und Literaturwissenschaftler Maurizio Bettini dar, dass Europas Zukunftsfähigkeit davon abhänge, ob sich der Kontinent zu "Öffnung und Vermischung" bekenne und es zustande bringe, unterschiedliche Kulturen zu integrieren und zum Vorteil aller zu nutzen. "Europa gehört jenen, die sich für die gerechteste, offenste und für alle akzeptabelste Tradition - jene der Gleichheit und Weitsicht - zu entscheiden wissen". Dasselbe Konzept habe einst dem von Nachfahren trojanischer Flüchtlinge gegründeten Römerreich zu Größe und Beständigkeit verholfen, so der aus Brixen stammende, an der Universität Siena lehrende Professor für klassische Philologie.
Völlig konträr dazu, steuere Europas Politik derzeit auf dem Weg einer "Selbstsuche, die ein Ganzes in viele Teile mit dem Anspruch auf nationale Souveränität und der Tendenz zur Selbstbeschau aufsplittert", mahnte Bettini. Die Folge dieser Haltung sei die permanente Angst vor den Fremden und den verschiedenen Formen des Andersseins. Der dahinterstehende "Mythos der Schließung, Trennung und der eigenen Reinheit" sei gefährlich und kurzsichtig. Dieselbe Denkweise hätten in der Antike den Stadtstaaten Athen und Sparta den Niedergang gebracht, indem sie zwischen sich selbst und besiegten Feinden fremder Herkunft stets große Distanz schafften.
Anlass zur Hoffnung sah der italienische Eröffnungsredner in Fresach dennoch, nämlich im Selbstverständnis der Jugend:
Die jungen Europäer sind Italiener, die in Deutschland oder Spanien arbeiten; Deutsche mit Arbeit und Wohnsitz in England; Portugiesen, die in Holland oder Schweden leben und arbeiten.
Jeder bringe in das Land seiner Wahl "ein Stück Heimaterde mit, vermischt es mit anderen Erden und auf diese Weise erschaffen diese jungen Menschen zusammen viele wandelbare Heimaten." Zeitgleich zu dem so erworbenen "neuen Bürgerrecht" behalte dennoch jeder die jeweils eigene Abstammung. Tradition und die aus ihr ableitbare kulturelle Identität seien "nichts Biologisches, keine Natur und keine Konstante", sondern vielmehr "Ergebnis einer Entscheidung", so Bettini.
Tourismus, Menschenrechte und Digitalisierung
Vortragende und Diskussionsteilnehmer der Toleranzgespräche 2019 sind u.a. der Wirtschaftsjournalist Hans-Jürgen Jakobs, der Kulturwissenschaftler Wolfgang Müller-Funk, die Sozialwissenschaftlerin Brigitte Kratzwald und der Publizist Hans Rauscher. Auch ein Tourismusforum findet in diesem Rahmen statt, bei dem touristische Zukunftsszenarien und Konfliktpotenziale eines weiteren Anstiegs des Tourismus debattiert werden. Thematische Schwerpunkte sind weiters die Menschenrechte, die Suche nach einer "Identität des Abendlandes" in Zeiten des Brexit und die Formulierung einer "Fresacher Regionen-Charta". Beim "UnternehmerInnentag" am Freitag stehen der demografische Wandel und die Digitalisierung im Zentrum, ehe am abschließenden Samstag die Fresacher Toleranzpreise verliehen werden.
Die Europäischen Toleranzgespräche in Fresach finden seit 2015 jährlich zu Pfingsten statt. Veranstaltet werden sie vom "Denk.Raum.Fresach", der sich als "interdisziplinäre Plattform für Kultur, Politik und Wirtschaft" versteht. Kooperationspartner sind unter anderem die Evangelische Kirche, der PEN-Club Austria, das Bundeskanzleramt, die Stadt Villach oder die Universitäten in Klagenfurt und Krems. Im Dezember 2017 wurde der "Denk.Raum.Fresach" für die Durchführung der Toleranzgespräche mit dem Kärntner Menschenrechtspreis ausgezeichnet. (Weitere Infos und Programm unter www.fresach.org)
Quelle: kathpress