Krise könnte beim "Demokratie-Lernen" helfen
Die Wiener Pastoraltheologin Prof. Regina Polak hat zur gegenwärtigen politischen Krise in Österreich betont, dass das "Ibiza-Video" und seine Folgen demokratiepolitisch verheerend sind, insbesondere für die Politiksicht der Jugendlichen. Möglicherweise kann es aber einen positiven Aspekt geben, sagte Polak am Dienstag in einem "Kathpress"-Interview: Ihrer Meinung nach könnte jetzt erprobt werden, wie sich Demokratie in der Krise bewährt. Es komme darauf an, "dass der Rechtsstaat funktioniert, es zur Sensibilisierung und zu demokratiepolitischem Lernen kommt".
Modell könnte diesbezüglich Bundespräsident Alexander Van der Bellen sein, den die Werteforscherin ausdrücklich lobte: "Seine Reden waren in diesen Tagen die einzigen im Sinne einer Gemeinwohl-Betonung. Er hat sich als Staatsmann erwiesen und Demokratie gelebt: Mit allen reden, auch dem politischen Gegner Respekt entgegenbringen."
Zum "Ibiza-Video" und zu den vielen "Einzelfällen" in der FPÖ - besonders die Identitären-Nähe - sagte Polak, die Demokratiefähigkeit der FPÖ sei ihrer Meinung nie gegeben gewesen. Das nicht erkannt zu haben, sei auch ihre Kritik an Bundeskanzler Sebastian Kurz und jenen Koalitionspartnern, die glauben, man könne rechtspopulistische Parteien mit einer Regierungsbeteiligung zähmen. "Wer das Wesen solcher Parteien verstanden hat, muss wissen, dass das nicht funktionieren kann - und auch bis jetzt nicht funktioniert hat." Außerdem: Regierungsverantwortung "ist doch - bitte - kein Erziehungsprogramm für Parteien, die nicht verstanden haben, was Demokratie ist". Jetzt habe Österreich "ein Problem". Es zeige sich, dass "wir eben nicht die Demokratie-Weltmeister sind".
Freilich mache auch die angewandte Methode der Aufdeckung der skandalösen Aussagen Angst. "Wenn ich als Politiker immer denken muss, ich kann nichts sagen, da kann ja eine Kamera eingeschaltet sein, dann hat auch das für mich eine demokratiegefährdende Dimension", erklärte die Theologin.
Kirchen müssen Polarisierung entgegenwirken
Aufgabe der Kirchen in der aktuellen Situation sei es, sich mit ethischen und demokratiepolitischen Kriterien einzubringen, betonte Polak:
Sie müssen bei den Gläubigen Bewusstsein wecken, dass sie nicht nur Zuseher, sondern mitverantwortlich für das Gemeinwohl sind, wie auch 'Gaudium et Spes' betont.
Bedauerlich sei die Polarisierung, die auch innerhalb von Pfarrgemeinden spürbar gewesen sei, konstatierte sie. Die 17-monatige VP-FP-Regierung habe mit dazu beigetragen, dass die Polarisierung verschärft, dass Institutionen in ihrem Ansehen beschädigt und soziale und religiöse Minoritäten pauschal stigmatisiert worden seien. "Das sollte man bei allen Erfolgen nicht vergessen." Hier Brücken zu bauen, ins Gespräch zu kommen, an Problemlösungen mitarbeiten, die ohne Sündenböcke auskommen, sei auch eine Aufgabe der Kirchen, befand Polak.
Denn dass sich ein bestimmtes Framing, ein bestimmter Narrativ der Politik - wie etwa die abwertende Rede über Flüchtlinge, Migranten und Muslime - negativ auf die Einstellungen der Bevölkerung auswirke, zeige sich auch in der Europäischen Wertestudie, erinnerte die mit deren Auswertung betraute Theologin. Oft stecke hinter Zustimmung Verunsicherung und Angst vor globalen ökonomischen Veränderungen. Sie hätte sich jedenfalls gewünscht, dass Bundeskanzler Kurz in den vergangenen vier Tagen auch darauf eingegangen wäre - und nicht nur eine "strahlende Bilanz verkündet" hätte.
Faktum sei, dass die Angst vor dem Islam Wesentliches außer Acht lasse, so Polak.
Das herausforderndste Phänomen für die religiöse Situation in Europa sind die Entkonfessionalisierung und Forderung nach Privatisierung von Religion. Das ist ein viel stärkerer Faktor als das Wachstum des muslimischen Bevölkerungsteils.
Die Theologin wünscht sich, dass im Sinne einer raschen Stabilisierung der Regierung alle Parteien der Gemeinwohlorientierung Vorrang gegenüber parteipolitischen Interessen geben. Und "im Wahlkampf sollen sich alle fragen, was junge Menschen dabei über Demokratie und Politik lernen."
Quelle: kathpress