Theologe verweist auf ÖVP-Mitverantwortung
Auf die Mitverantwortung der ÖVP an der aktuellen Regierungskrise hat der an der Katholischen Privat-Universität Linz (KU Linz) lehrende Moraltheologe Michael Rosenberger hingewiesen. Die Volkspartei habe sich 2017 bewusst für die FPÖ als Koalitionspartner entschieden. Das werfe die Frage auf, "ob damals Dinge bewusst übersehen, verharmlost oder zu leicht genommen wurden", so Rosenberger in der aktuellen Ausgabe der Kooperationsredaktion österreichischer Kirchenzeitungen.
Zu trennen sei dies allerdings von einer Frage nach Schuld: "Um zu entscheiden, ob bei der Wahl des Koalitionspartners auch schuldhaft oder fahrlässig gehandelt wurde, müsste man interne Dinge rund um die Koalitionsbildung kennen, das lässt sich nicht durch Schnellschüsse beantworten", meinte der Moraltheologe. Dass das Land ohne Atempause in den Wahlkampf übergegangen sei und die Aufarbeitung nicht vorangestellt wurde, könne man bedauern, es sei aber erwartbar gewesen. "So funktioniert das eben in einer demokratischen Öffentlichkeit."
Zur moralischen Rechtfertigung bei der Erstellung des "Ibiza-Videos" erklärte Rosenberger:
Bei der Erstellung des Videos wurden zwar moralische Grenzen überschritten, es geht um einen Eingriff ins Privatleben und arglistige Täuschung. Im Staat kann es jedoch Situationen geben, wo es keine Möglichkeit gibt, anders zu handeln.
Auch Geheimdienste begingen de facto Rechtsbrüche, um die demokratische Grundordnung zu schützen. "Wenn man den unbekannten Erstellern des Videos unterstellt, dass es ihnen um die Verteidigung der Rechtsordnung gegangen ist, könnte ein Grenzfall des Gewissens vorliegen. Nur wissen wir das heute nicht", so der Theologe.
An Neuwahl kein Weg vorbei
Laut Rosenberger führt nun nach der Auflösung der türkis-blauen Koalition an der Neuwahl-Entscheidung kein Weg vorbei, weil nur so die Aufklärung rund um das veröffentliche Ibiza-Video sichergestellt werden könne. Auch Alternativen überzeugen den Ethiker nicht: "Ein fliegender Koalitionswechsel hätte die Frage verdeckt, wie es mit der Verantwortung der ÖVP aussieht", so Rosenberger.
Vom Wählen sollte sich laut dem Moraltheologen durch den Skandal niemand abhalten lassen:
Bei allem verständlichen Frust und Ärger kann es keine Lösung sein, die Wahlentscheidung anderen zu überlassen und das Risiko einzugehen, dass es zu Entscheidungen kommt, die man sicher nicht wollte.
Moralisch gesehen sei ein Wahlrecht immer auch eine Wahlpflicht, "denn wir tragen gemeinsam Verantwortung für unseren Staat, selbst jemand, der alle Parteien für schlecht hält, ist moralisch verpflichtet, das geringere Übel zu wählen, weil wir immer versuchen müssen, das Schlimmste zu verhindern. Dazu kommt die Frage, ob man sich nicht selbst politisch betätigen sollte", so Rosenberger.
Quelle: kathpress